Theorie zur Technikfolgenabschätzung: Expertenrat für Politiker
Der Physiker und langjährige Leiter des Büros für Technikfolgenabschätzung Armin Grunwald hat aus seinen praktischen Erfahrungen eine Theorie geformt
1972 wurde im US-Kongress das „Office of Technology Assessment“ (OTA) gegründet, die „Mutter“ der Technikfolgenabschätzung (TFA). Der Deutsche Bundestag folgte 1990. Seitdem hat sich die Beratungsszene stark entwickelt, sowohl innerhalb der politischen Entscheidungsebene (Enquetekommissionen) als auch extern (Thinktanks). So hat die Bundesregierung in ihrem aktuellen Koalitionsvertrag 21 Expertenkommissionen und Fachbeiräte aufgelistet, die ihr zur Entscheidungsfindung zuarbeiten sollen. Darunter die Endlagerkommission für atomare Abfälle, der auch Grunwald angehörte, oder die Strukturwandelkommission für den Kohleausstieg.
Für erfolgreiche Politikberatung müssen nach Grunwalds Analyse drei zentrale Dimensionen zur Geltung kommen: Die „Dimension der Antizipation“, die plausible Folgen einer Technikanwendung in unterschiedlichen Szenarien darstellen kann. Die „Dimension der Inklusion“, die die künftige Entwicklung aus dem Blickwinkel der Gesellschaft betrachtet. Grunwald: „Hierbei geht es nicht um die Entscheider-, sondern um die Betroffenenperspektive.“ Bei Nachhaltigkeitsthemen würden dazu auch die künftigen Generationen zählen. Die dritte Dimension ist ein funktionierendes „Komplexitätsmanagement“, um die unterschiedliche Sichtweisen unter einen Hut zu bringen.
Für die praktische TFA-Arbeit leitet Grunwald – der im Hauptberuf am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) das Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse leitet – drei wesentliche Leitlinien ab. Für die Wissenschaft müsse im Verhältnis zu Gesellschaft und Politik das Modell des „honest broker“ gelten – die Experten engagieren sich ohne Eigeninteresse. Die Wissenschaft liefert die Fakten ohne Werthaltungen; die – wertegeleiteten – Entscheidungen treffen andere. Zweitens ist das „Denken in Alternativen“ für moderne TFA essenziell, wie es in die Entscheidungsfindung zur Energiewende bereits Eingang gefunden hat.
Schließlich sollte es im Beratungsverfahren darum gehen, die „deliberativen Elemente stark zu machen“, wie es Grunwald formuliert. Das bedeutet, möglichst viele Stimmen zu hören und einzubeziehen, um zu „robusten Entscheidungen“ zu kommen, die dauerhaft Bestand haben. Für Grunwald ist die „Lehre aus der Endlagerkommission: Ohne Deliberation wäre sie gegen die Wand gefahren.“ Dabei geht es nicht um die Beschaffung von Akzeptanz im Vorfeld, sondern darum, durch die Einbeziehung vieler – auch aus der Zivilgesellschaft –, um letztlich „die Qualität der Ergebnisse zu verbessern“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen