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Theaterkritik in der KriseNach Art des Hauses

Die Theaterkritik läuft online schlecht und die Büh­nen­künst­le­r:in­nen schimpfen laut über sie. Ist sie deshalb tot?

Ein Tempel war vor kurzem im Gorki Theater Berlin im Stück „Bühnenbeschimpfung“ zu sehen Foto: David Baltzer

Wenn Wandel Fahrt aufnimmt und Kräfteverhältnisse kippen, bilden sich rasch zwei Lager. Die einen sagen, endlich, das Alte ist tot, das Neue regiert, und zwar sofort! Sie geben die aktivistische Antwort, die Realität beschwört, wo in Wahrheit noch viel Wunsch wohnt. Die konservative Antwort lautet zuverlässig: Nein, nein, es ist alles wie immer, es sieht nur etwas anders aus. Sie kommt genauso aus dem Reich des Idealismus wie die aktivistische. Materialistisch ist keine der beiden, wie sich am Beispiel der Diskussionen um die Rolle der Kulturkritik zeigen lässt, und zwar insbesondere der guten alten Thea­ter­kritik.

Dass die Theaterkritik ende, wussten im vergangenen Jahr gleich mehrere Theaterschaffende. „Your time is up, Darling“, deine Zeit ist vorbei, Schätzchen, rief ein Schauspieler und Neuregisseur einer Kritikerin auf Facebook hinterher, die seine Arbeit nicht hinreichend würdigte.

Ein Regieteam ließ über das produzierende Festival verlauten, man „prüfe rechtliche Schritte“ gegen ein Radiogespräch, in dessen Verlauf der Kritiker den Thea­ter­abend als „nicht state of the art“ bezeichnete. Dass eine Theaterintendantin schon im Jahr zuvor im Radio berichtete, von vielen Kritiken bleibe nur „die Scheiße am Ärmel der Kunst“ kleben, bestätigte die Zerfallsthese.

Gleichzeitig erreichten uns aber auch Botschaften der Kontinuität. Passenderweise kurz vor Weihnachten erschienen Texte von einem Ex-Kritiker, der heute etwas Vernünftiges arbeitet, und von einem älteren Regiepromi, die beide mit beruhigenden Analysen aufwarteten und sinngemäß sagten: Schnickschnack, Kinder, es ist alles wie immer – im Theater sei immer Krise, davon handle es, und die Kritik sei noch nie wohlgelitten gewesen.

Das sind die zwei Lager in der Rede über Theaterkritik. Einmal alles vorbei, einmal alles wie immer. Ein Rückblick an einen Ort vor unserer Zeit veranschaulicht, warum beide Lager nicht richtig, aber auch nicht ganz falsch liegen.

Kritik war Königsklasse

Mitte Dezember berichtete die Frankfurter Allgemeine Zeitung über ihren Auszug aus den alten Redaktionsräumen und illustrierte den Text mit einem Bild einer Feuilletonkonferenz von 1993. Es ist also schon numerisch richtig, die Fotografie im letzten Jahrhundert zu datieren. Der Vergangenheitsschock: Im Büro von FAZ-Mitherausgeber Joachim Fest sitzen ungefähr 18 Männer und eine Frau, ihr Kerngeschäft wie Königsklasse war die Kritik, die Rezension.

Der berechtigte Reflex, an diesem Bild die Ungleichheit der Geschlechter zu kritisieren, übertönt aber ein anderes Signal: Man sieht dieser Männerrunde an, dass sie bequem im Sessel sitzt. Vor 12 Uhr musste niemand im Büro sein, schrieb ein Ehemaliger in den sozialen Medien. Die Zeit war frei – lesen, schwimmen, vielleicht sogar länger schlafen, weil man nachts interessante Leute traf, die nicht auf die Uhr schauten.

Und auch wenn Le­se­r:in­nen­brie­fe bestimmt ernst genommen wurden, gab es keine Kommentarspalten und Userforen, deren größter Zweck zu sein scheint, Jour­na­lis­t:in­nen zu erklären, dass sie a) keine Ahnung hätten und b) nichts anderes zu erwarten war.

Die ins Auge springende Sicherheit des FAZ-Feuilletons kann man nun als Zeichen vergangener Privilegien lesen, von männlicher (und weißer) Dominanz. Daher kommt das Gelächter über dieses Bild in den sozialen Medien. Ja, da sind wir heute weiter. Aber die Häme verdrängt auch einen Rückschritt zur Gegenwart.

Kritik als Crowdpleaser

Denn mindestens so schlimm wie das Geschlechterverhältnis wirkt das Selbstbewusstsein dieser Runde attraktiv. Wie autoritär oder freiheitlich das FAZ-Feuilleton von innen wirklich war, entzieht sich meiner Kenntnis. Aber was das Bild vermittelt: Man dachte nicht gleich bei jedem Satz daran, wie gut oder schlecht das in eine Insta-Kachel passt und ob der Text beim richtigen Publikum gut ankommt.

Gemeint sind nicht Begriffe oder Worte, sensibilisierte Sprache ist normaler Wandel, den es zwischen Generationen und Weltanschauungen zu verhandeln gilt. Kritik heute heißt aber in vielen Fällen, zu antizipieren, wie die Follower reagieren. Kritik als Crowdpleaser. Aus meiner Praxis: Einige Re­dak­teu­r:in­nen warnen regelmäßig vor den Kommentaren, wenn sie etwas kontrovers finden. Ob das Demokratisierung bedeutet oder Opportunismus und Stream­lining zur Folge hat, das sind die großen Fragen unserer Tage im Kulturkampf. Die Kritik als Textsorte steht da mittendrin.

Es steht außer Frage, dass die größte Medienrevolution seit Erfindung des Buchdrucks auch die Theaterkritik verändert. Aber sie hat ihren Status verloren als die feuilletonistische Kunst des Interdisziplinären (alles spielt eine Rolle: Körper, Musik, Raum, Mode, nebst Schauspiel und Text).

Theater ist komplex, aber seine Kritik wird online nun einmal sehr schlecht gelesen. Sich rituell darüber zu beklagen, dass die Theaterkritik verschwinde, hat etwas Wohlfeiles: Wieso sollten Medienunternehmen in der moralischen Pflicht stehen, im Überfluss anzubieten, was niemand richtig haben will? Diesen Auftrag, das Kulturgut zu pflegen, erfüllen die öffentlich-rechtlichen Radios.

Kritik am Theater kommt aus den Häusern selbst

Auf Portalen wie nachtkritik.de rückt die Kritik in die Nähe eines lebendigen betrieblichen Diskurses unter Nerds, als im gut subventionierten deutschsprachigen Raum schöne große Nische mit vielen Kommentaren.

Noch nicht alle sehen das Ausmaß des Wandels derweil so historisch hellsichtig und elegant wie der 93-jährige Jürgen Habermas in seinem jüngsten Essay, „Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik“: „Wie der Buchdruck alle zu potenziellen Lesern gemacht hatte, so macht die Digitalisierung heute alle zu potenziellen Autoren. Aber wie lange hat es gedauert, bis alle lesen gelernt hatten?“

Wo viel und auch immer besser geschrieben wird, ist in den Theatern selbst. Zum einen in den eigenen Publikationen – mal von den Öffentlichkeitsabteilungen verfasst, mal von Agenturen und externen Autor:innen. Zum andern kommt die härteste Kritik an den Häusern aus den Häusern, als Kritik an der Institution.

Alle Gespräche mit Thea­ter­leuten, die ich in den letzten drei Jahren off und on the record über Machtmissbrauch, Sexismus und Rassismus führte, waren komplexer als die große Mehrheit der Texte, die ich darüber las. Es gibt in den Häusern eine Kultur der Kritik, der Beratung und der Auseinandersetzung, die vor wenigen Jahren unvorstellbar gewesen wäre.

Während die klassische Kritik Rückzugsgefechte inszeniert und zum Beispiel das „woke“ Theater für den Publikumsschwund verantwortlich macht, obwohl die Zahlen, würde man sie denn recherchieren, das Argument nicht stützen, schreitet die Kritik in den Institutionen nach vorne. Das ist keine Frage des Charakters, sondern allein der Ressourcen. Die Thea­ter sind sehr gut durch die Pandemie gekommen, dank der öffentlichen Hand. Die privaten Medien nicht so gut. Der Rest ist Rechnen.

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