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Theater in Zeiten nach CoronaAlles muss anders und neu werden

Wie könnten sich Theater nach der Erfahrung der Entschleunigung aus der Pandemie neu aufstellen? Eine Ideenskizze für ein Ganztagstheater.

Das antike Theater Epidaurus Foto: Astrid Kaminski

Freie Abende sind toll. Zum Denken, zum Daten, zum Kochen, zum Meditieren, zum Spazieren, zum Lesen, Geschichten vorlesen, Briefe ­schreiben und so weiter. All das wissen wir seit Corona. Wir, die Leute, die im Theaterkontext arbeiten. Denn für Theaterarbeiter*innen gab es – wie für viele andere – vorher keine freien Abende. Es gab aber auch keine freien Vormittage. Keine freien Wochenenden und manchmal noch nicht mal freie Nächte. Anträge ­schreiben, Texte, Proben, Forschen, Verwalten, Abrechnen, Diskurse verfolgen, Spielpläne studieren, Akquise, Socialising … Sieben Tage die Woche. Also: kein Frei. Und deshalb kommt hier eine steile These: Vielleicht vermisst das Publikum das Theater mehr als diejenigen, die es machen? Denn die wollen ihre freien Abende nicht mehr hergeben.

Viel ist in den vielen Texten, die zur Situation von Theaterarbeiter*innen in letzter Zeit aufgezeichnet wurden, die Rede von (Über-)Produktionsdruck, (Selbst-)Ausbeutung, Burn-out, von „Alles muss anders und neu gedacht werden“. Der Choreograph Jeremy Wade, der zuletzt mit neun Ausgaben seiner Future Clinic of Critical Care durch die Theaterszene tourte, diagnostiziert: „Wir sind erschöpft. (…) Wir wollen nicht zurück zu den unmöglichen, nicht nachhaltigen, entmenschlichenden Arbeitsbedingungen der Kulturproduktionsmaschine und ihren rückgratbrechenden Verträgen.“

Das selbsterklärte „Stadttheater der Zukunft“ NTGent ruft aus: „Stell alles in Frage!“ Und: „Wir müssen unsere Beziehung mit dem Publikum, den Mitmenschen, der Welt neu überdenken.“ Die Berliner Festspiele fragen: „Und jetzt? Kaum jemand will, dass es weitergeht wie vorher. Aber wo können wir landen?“. Der Berliner HAU-Kurator Ricardo Carmona referierte kürzlich auf einen Spruch, der um die Welt ging: „We can’t go back to normal because normal was the problem.“

Nur: Wird wirklich alles anders werden? Ist das Lächeln der Ballerina ausgelächelt? Wo sind die Thea­ter, die uns – über implementierte Virus-Schutzmaßnahmen und ein breiteres digitales Angebot hinaus – in der neuen Spielzeit mit einem „Alles anders“ überraschen? Die (angesichts einer zweiten Welle) in freiwillige Denkquarantäne gehen? Die festgestellt haben, dass Kunst nicht nur „systemrelevant“, sondern auch systemisch betroffen ist? Oder wird letztlich dafür wenig Raum übrig bleiben?

Theater und Gemeinschaft

Anfangs seien die Leute hoffnungsvoll gewesen, dass die Krise einem System der Überkonsumation ein Ende setze, so der Dekolonialitätssoziologe Rolando Vázquez Melken in einem Interview für die niederländische Zeitschrift Theater­krant. „Diese ursprüngliche Hoffnung, dass ein Ende des Systems in Sicht sei, schlägt inzwischen mehr und mehr in Verzweiflung um. Einige nehmen vielmehr wahr, dass die Krise, statt eines Anhaltens, die Logik des Systems beschleunigt und intensiviert.“

Nur: Auch Systemkritik ist, in Zeiten, in denen Gesellschaftsverträge nicht in ihrer von uns allen mitzuverantwortenden Dürftigkeit analysiert, sondern mit besorgniserregender Dreistigkeit attackiert werden, schwieriger geworden. Eine Lösung könnte, wie die Berliner Festspiele oder das Radialsystem in ihren Programmen andeuten, eine das Publikum einbeziehende Selbstbefragung sein. Auch Wade und Vázquez fordern ein Theater, das die Frage nach einer solidarischen Gemeinschaft stellt, einer Gemeinschaft, die die Bedürfnisse Einzelner und die Forderungen der Gemeinschaft an die Einzelnen neu bewertet. Das Gemeinschaftliche des Theaters, die Möglichkeit, Gesellschaftsverträge auszuhandeln und zu erproben, könnte sein fundamentalster ästhetischer Wert sein. Nur eine hochsensibilisierte Kunst könnte in der Lage sein, Mittel zu finden mit der aktuellen Vertrauenskrise umzugehen.

Das muss nicht auf einer zentralperspektivischen Bühne passieren. Wie sehr die Institution Theater an „altmodische“ Repräsentationsformen gebunden ist, das fiel nicht erst dem NTGent-Direktor Milo Rau während der Krise auf. Theater wäre also unter Umständen frei von seinen traditionellen Institutionen zu denken. Als Idee.

Theater „9 to 5“

Es wäre, zumindest solange das Burn-out-Produzieren anhält, vor allem frei von Abendvorstellungen zu denken. Ein „9 to 5“-Theater. Ein Ganztagstheater. Als Experiment. Wenn es stimmt, dass Kultur ein Lebensmittel ist, dann sollten ihre Zutaten ganztags, zu normalen Arbeitszeiten, verfügbar sein. Für Familien, Elternteile mit Kindern, für Schicht­ar­bei­te­r*in­nen, aber auch für alle, die von ihren Arbeitsplätzen oder (nicht existenten) Homeoffices heraus gemeinschaftliche Erfahrungen suchen. Eine erste Etappe, vor dem Grundeinkommen, könnten Kulturgutscheine sein.

Jeder Mensch sollte die Möglichkeit haben, diese viermal im Monat zu Arbeitszeiten einzulösen. Für Selbstständige würde nach dem Vorbild der Corona-Hilfsprogramme ein Kulturbudget ausgeschüttet, sodass der Durchschnittsumsatz während der 10 monatlichen Kulturstunden vom Staat übernommen würde. Ob und wie die Gutscheine an ein bestimmtes Kunstniveau gebunden wären, müsste verhandelt werden. Den Raum und die Methode dafür zu schaffen, wäre vielleicht durchaus ein Auftrag an eine Kunstform, die Fragen der Gemeinschaft verhandelt, sprich: das Theater.

Rolando Vázquez denkt den Verlust des Körpers im erwähnten Interview mit dem der Gemeinschaft zusammen. Die Aufgabe der Künste sei es, kritisches Engagement zu fördern, nicht eine Politik der Vereinzelung zu unterstützen. Genau darum braucht es ein Ganztagstheater. Und wegen der freien Abende.

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