Terrorermittlungen in der Türkei: Erdoğan nimmt Istanbul ins Visier
Die Justiz ermittelt gegen 550 Angestellte der Istanbuler Verwaltung. Die Opposition sieht einen Versuch, dem beliebten Bürgermeister zu schaden.
Gegen rund 450 davon werde wegen Unterstützung oder Mitgliedschaft in der kurdischen „Terrororganisation“ PKK ermittelt, andere sollen der „linksterroristischen“ DHKP-C nahestehen. Der Schritt, so Soylu, sei „keine politische Maßnahme“, sondern eine reine Anti-Terror-Ermittlung.
Genau dies stellt nicht nur der Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu von der Oppositionspartei CHP infrage. Auch führende Oppositionspolitiker und regierungskritische Journalisten sehen das anders. Denn im sich abzeichnenden Präsidentschaftswahlkampf vor der für 2023 geplanten Wahl könnte İmamoğlu für Erdoğan zum gefährlichsten Gegenkandidaten werden.
Soylu, der in der regierenden AKP lange als möglicher Nachfolger Erdoğans gehandelt wurde, versucht nach Ansicht des Journalisten Fatih Portakal, nun zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Er wolle das Image İmamoğlus, der auch in religiösen Kreisen als wählbar gilt, beschädigen und einen Keil in das Oppositionsbündnis treiben, indem er der größten Oppositionspartei CHP eine Nähe zur PKK unterstellt, analysierte Portakal am Montag auf Twitter.
İmamoğlu wies die Vorwürfe zurück und erklärte zunächst, er stehe hinter allen 89.000 Mitarbeitern der Stadtverwaltung und werde gegen Kriminalisierungsversuche vorgehen. Gleichzeitig forderte er Soylu und den Justizminister zum Rücktritt auf. Sollte sich einer der Vorwürfe tatsächlich erhärten, sei die Regierung selbst schuld, denn jeder Bewerber auf eine Stelle bei der Stadtverwaltung muss eine Unbedenklichkeitsbescheinigung des Justizministeriums vorweisen.
Die Opposition befürchtet jetzt, dass Erdoğan die Einleitung der Strafverfahren gegen Mitarbeiter der Stadtverwaltung zum Vorwand nimmt, um İmamoğlu als Oberbürgermeister absetzen zu lassen und wie in vielen Städten in den kurdischen Gebieten einen Staatsverwalter einzusetzen. Doch das, glaubt Fatih Portakal, würde die Popularität İmamoğlus am Ende nur noch steigern.
Wirtschaftskrise schadet Erdoğan
Seit İmamoğlu 2019 die zwanzig Jahre währende Dominanz der AKP in Istanbul beendete, gilt er als einer der Favoriten der Opposition. Auch deshalb wirft ihm die Regierung Knüppel zwischen die Beine. So wurden die staatlichen Banken angewiesen, der Istanbuler Verwaltung keine Kredite zu geben, und per Gesetz wurde verhindert, dass İmamoğlu Kredite bei ausländischen Banken aufnimmt. Außerdem wurde der Stadtverwaltung verwehrt, Gelder für Pandemieopfer zu sammeln. Dennoch liegt İmamoğlu nach wie vor in Umfragen deutlich vor Erdoğan.
Vor allem die Wirtschaftskrise in der Türkei hat Erdoğan Zustimmung gekostet. Nachdem die Währung 2021 noch einmal 50 Prozent ihres Werts gegenüber dem US-Dollar verloren hat und Lebensmittelpreise ständig gestiegen sind, hat er in Umfragen keine Chance mehr.
Erdoğan entschloss sich deshalb letzte Woche zu einem riskanten Manöver. Zum einen wurden in einer Nacht bis zu 20 Milliarden Dollar aus undurchsichtigen Quellen mobilisiert, um mit Stützungskäufen den Lirakurs wieder hochzutreiben. Zum anderen garantierte der Präsident allen Bürgern, die ihre Dollarguthaben wieder in Lira umtauschen, dass der Staat nach Ablauf eines Jahres eine mögliche Differenz zu Dollarguthaben ausgleichen würde.
Zwar erholte sich die Lira dadurch auf einen Schlag um 40 Prozent, doch schon knapp eine Woche später bröckelt der Kurs nun wieder. Gegen Experten, die öffentlich bezweifelten, dass Erdoğans Aktion Erfolg haben würde, sind Strafverfahren wegen Verleumdung der Zentralbank eingeleitet worden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann