Terror in Nigeria: Zahl der Toten steigt schnell
Bis zu 500 Menschen sterben bei Angriffen der Boko Haram auf Dörfer nahe der Grenze zu Kamerun. Es gibt Berichte, das Militär habe nicht eingegriffen.
BERLIN taz | Selbst nach den Maßstäben Boko Harams sind die neuesten Nachrichten aus Nigeria außergewöhnlich. Auf 400 bis 500 Tote schätzen lokale Dorfchefs die Zahl der Opfer einer Serie von Angriffen der islamistischen Untergrundkämpfer auf mehrere Dörfer im Nordosten des Landes diese Woche.
„Hunderte von Leichen liegen herum, weil niemand sie beerdigen kann“, sagte der Chef des Dorfes Attagara. Der Parlamentarier Peter Biye sagte: „Niemand kann eine Bilanz ziehen, weil niemand in diese Region kann. Die Aufständischen haben über die gesamte Zone die Kontrolle übernommen.“
Die Tatorte sind die Kleinstadt Ngoshe sowie die nahen Dörfer Attagara, Agapalawa und Aganjar. Sie liegen im Distrikt Gwoza im nordostnigerianischen Bundesstaat Borno, am Fuße der Mandara-Berge an der Grenze zu Kamerun.
Der Landstrich um Ngoshe, vom Rest des Distrikts durch einen Gebirgsausläufer getrennt, wird von der Glavda-sprachigen Minderheit bewohnt, die multireligiös ist: Die meisten Dörfer sind mehrheitlich christlich, aber zu gut einem Drittel muslimisch, und in vielen Familien gibt es sowohl Christen als auch Muslime und sowohl Nigerianer als auch Kameruner.
Die Glavda kommen im Krieg gegen Boko Haram nun unter die Räder. Zum einen haben die Armeen Nigerias und Kameruns begonnen, die Grenze abzuriegeln. Zum anderen aber übernahm Boko Haram im Mai die Kontrolle über die Glavda-Grenzstadt Ashigashiya.
Die neuen Massaker sind Endpunkt einer Gewaltspirale. Am Freitag vergangener Woche starb der Emir von Gwoza bei einem Attentat. Am Sonntag wurden im Dorf Attagara neun Christen getötet. Bei Racheangriffen starben vier Muslime im Dorf und insgesamt 37 im gesamten Landstrich. Daraufhin begannen den vorliegenden Berichten zufolge die Großangriffe Boko Harams - nach bewährtem Muster.
„No-Go-Area“ für das Militär
Hunderte Uniformierte auf Motorrädern oder in Militärfahrzeugen kamen nachts an, verkündeten, sie seien Armeeverstärkung zum Schutz vor Boko Haram und trommelten die jeweilige Dorfbevölkerung zusammen. Als alle auf dem Dorfplatz standen, riefen die Uniformierten „Allahu Akbar“ und eröffneten aus Maschinengewehren auf die Menge das Feuer.
Ngoshe, der größte der vier Orte, wurde mit seiner Moschee und seinen 300 Häusern komplett zerstört. Alle Dörfer seien jetzt menschenleer, das Gebiet eine „No-Go-Area“ für das Militär.
Ganz neu ist dieser Zustand für die Region nicht. Die Straße aus der 135 Kilometer entfernten Provinzhauptstadt Maiduguri in den Distrikt Gwoza gilt schon seit Monaten als äußerst gefährlich. Als Provinzgouverneur Kashim Shettima am vergangenen Samstag aus Maiduguri zur Beerdigung des ermordeten Emirs anreiste, musste er 150 Soldaten zu seinem Schutz mitbringen. Ein Reporter zählte auf der Fahrt 16 menschenleere Ortschaften.
„Alle rennen von einem Dorf zum anderen, und wenn das angeblich sichere Dorf angegriffen wird, rennen sie ins nächste Dorf,“ sagte der lokale Chef des Ortes Askira, Mallam Dawa Pogu, gegenüber lokalen Journalisten. „Wir haben Sicherheitskräfte, aber sie können uns nicht helfen, denn es sind ja auch nur Menschen und sie haben Probleme.“ Er habe um Armeeschutz gebeten und zur Antwort bekommen, erst müssten die Soldatengehälter bezahlt werden.
Auch bei den jüngsten Angriffen gibt es Berichte, das Militär habe nicht eingegriffen, obwohl es in der Nähe war. Und dass die Angreifer mit Militärfahrzeugen und Armeeuniformen kamen, verstärkt den Verdacht, Teile der Sicherheitskräfte steckten mit Boko Haram unter einer Decke.
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