Televoting beim ESC in Turin: Kiew, wir kommen
Der Song Contest 2023 muss in der Ukraine stattfinden. Dabei ist es völlig gleich, wie chaotisch und provisorisch der ESC dort vielleicht sein wird.
D ass der ukrainische Act, das HipHop-Folk-orientierte Kalush Orchestra, aus buchstäblich allen Ländern beim Televoting, also bei den Volxabstimmungen per Social Media, App und Telefonen, hohe bis zu überwiegend höchste Wertungen bekam, ist beruhigend: Die Macht der Herzenserschütterten ob des grausamen Krieges, den Russland gegen die Ukraine führt, ist größer als die der Popexpertist*innen, die die Jurys repräsentierten und offensichtlich lieber mulschig-sterilen Pomp-Rock aus Britannien bevorzugten als den etwas straßenstaubigen Rap Made in Kalush nahe Lwiw.
Selbst aus Ländern, deren politische Eliten dem Putinregime näher stehen als der sich im Zeichen von Diversity und Kampfesmut wehrenden Ukraine. Selbst Serbiens Televotende gaben dem Lied „Stefania“, anders als die Jury Belgrad, Punkte, und zwar gleich derer sieben.
Sie werden nun erwarten, dass das nächstjährige Festival der europäischen Inklusion und Diversität auch in der Ukraine ausgetragen wird – wie es deren öffentlich-rechtlicher Sender auch bei Anmeldung für den ESC in Turin zuzusagen hatte: Wer siegt, muss zwölf Monate lang extrem rührig werden und das Ding – ein kulturelles und logistisches Monsterprojekt – ausrichten.
Stimmen, ob das denn so gut sei in einem Kriegsland, werden vor allem in den geopolitisch eher zurückhaltenden, mancher würde sagen: wohlstandspummeligen und risikofeigen, Ländern laut. Oh, nein, das könnte aber gefährlich werden! So heißt es in Schweden, in Frankreich und auch in Deutschland.
Man muss diese Äußerungen politisch ernst nehmen: als Zeichen, dass man ein Land im Krieg gegen einen quasi völkischen Aggressor lieber nur lautmalerisch unterstützen möchte, jedenfalls nicht durch möglicherweise ungemütliche Rahmenbedingungen. Die Ukraine hat zweifach den ESC gewonnen und sich trotz der aus Russland drohenden Gefahren nicht einschüchtern lassen.
Die Ukraine – mit ihrem smartesten Schirmherrn überhaupt – wird sich den ESC so garantiert nicht aus der Hand nehmen lassen, dafür wird Wolodimir Selenski schon Sorge tragen. Schließlich hat auch Israel als dreifacher ESC-Gastgeber (1979, 1999 und 2019) sich nicht einreden lassen, es könne für die Sicherheit seiner Gäste nicht garantieren.
Schönwettereuropäisierung geht ja immer, aber die ist momentan nicht im Angebot: Die Ukraine – völlig klar – wird im Mai 2023 Gastgeberin des 67. Eurovision Song Contest sein – wie provisorisch und chaotisch das auch in puncto Planung werden wird. Sie erwarten uns als ihre Gäste: Die Einladung darf nicht ausgeschlagen werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
BGH-Urteil gegen Querdenken-Richter
Richter hat sein Amt für Maskenverbot missbraucht
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Sensationsfund Säbelzahntiger-Baby
Tiefkühlkatze aufgetaut