Eurovision Song Contest: Ein Festival der Diversität

Dem ESC wird nachgesagt, dass er einem Kulturverfall gleiche. Dabei ist es genau andersrum: Er ist auf der Höhe der Zeit.

Blaues Auto, davor ein tanzender Sänger

Beim ESC ist mittlerweile auch Australien dabei: diesmal mit der Band Voyager Foto: Peter Kneffel/dpa

Anfang der Woche veröffentlichten die beiden ESC-Blogger Marc Schulte und Martin Schmidtner eine Erklärung in ihrem Online-Forum: Sie nehmen „Abschied“ vom Eurovision Song Contest. Beide haben in ihrem Blog über viele Jahre über und von den Orten, an denen der ESC jeweils stattfand, über dieses Event berichtet. Nun wollen sie nicht mehr: Sie könnten mit der „Kommerzialisierung und Monopolisierung“ nicht mehr mithalten. Außerdem schreiben sie – und Schriftliches wird in der Eurovisionsfansphäre, die in die Hunderttausende geht, kaum noch zur Kenntnis genommen. Andere zogen schon vor Jahren ähnliche Schlüsse und zogen sich zurück. Die Graswurzelszene beim Eurovision Song Contest wird ungefähr so stark verdrängt wie auf europäischen Fluren gewöhnliche Blümchen und Kräuter durch die Macht der Agrarlobby: Was der Ernte nicht nützt, soll keinen Platz haben.

Tatsächlich findet rund um den Eurovision Song Contest eine Flurbereinigung medialer Art statt: Das Event, das bis vor wenigen Jahren mehr oder weniger ein Festival der „queeren Undergrounds“ war, ein übel beleumundetes TV-Ereignis ohne kunstreligiösen Sinn, ein Wettbewerb, der in den distinktionsbewussten Kulturkreisen nie auch nur einen kleinen Blumenpott gewinnen konnte, dieses Event ist, und zwar mit globaler Ausstrahlung, cool geworden. Man guckt ESC, man hält sich diesen Samstag im Mai im Kalender fest und gilt nicht mehr als psychischer Borderliner, wenn man das guckt und womöglich noch als Fest der europäischen Verständigung genießt!

Der ESC ist zwar seit seiner ersten Ausgabe für fast alle beteiligten öffentlich-rechtlichen Sender die jeweils im Jahr quotenstärkste Show – aber sie fand, abgesehen von Boulevardberichterstattung, nicht Eingang in mediale Aufmerksamkeit. Anfang der neunziger Jahre begannen indes ESC-Fanclubs, sich als Journalisten beim Event zu akkreditieren. Über viele Jahren wuchs so eine – im Übrigen überwiegend schwule – Graswurzelszene, eine mediale Basisbewegung, die vom ESC berichtete.

Als seitens der Veranstalter aber die Kostenfrage näher aufgeworfen wurde, gegen Ende der neunziger Jahre, als außerdem die osteuropäischen Sender partout mitmachen wollten, begann die European Broadcasting Union (EBU) in Genf (der auch die ARD angehört) an Sponsorenmodellen zu arbeiten – und seit circa fünf Jahren mit der Arbeit, das Zuschauerprofil zu verjüngen. Die Show stand faktisch vor der gleichen Aufgabe wie Zeitungen, die nur auf Papier erscheinen: Wie interessiert man das Stammpublikum für Neues, wie die Jungen für ein Traditionsformat?

Nur wenige Presseakkreditierungen

Das Resultat ist in aller Schärfe in Liverpool, jetzt beim 67. Eurovision Song Contest, zu bestaunen: Es sind in der Tat recht wenige Presseakkreditierungen vergeben worden, mit geringer Priorität für Blogs, also Fans, und Printzeitungen mit kleinen Auflagen. Vorrang haben TV-Sender und Radiostationen, Massenmedien quasi. Zumal in diesem Jahr die Regie des Ausspielens von Inhalten von den Proben der Acts beim Kommunikationsgiganten TikTok liegt: Dieser Dienst stellt die Schnipsel zur Verfügung, nur TikTok darf das Bildmaterial sortieren – weil das, so die Kalkulation der EBU, direkt in die Herzen eines jungen Publikums trifft.

Ästhetisch nimmt sich die Show aus Liverpool, ausweislich der Dienstag und Donnerstag zelebrierten Semifinals, den Qualifikationsrunden für das Grand Final am Samstag, wie ein Gegenentwurf zu den ESCs noch in den achtziger Jahren aus: Aus einer Musikshow mit national aufgeladenen Acts, mit öfter starken Folkloreelementen, ist eine Popleistungsschau geworden, bei der man bei einem Act nicht mehr erkennt, ob da ein Lied aus dem südlichen oder dem östlichen Europa kommt.

Das alte Europa wie in den sechziger Jahren, das hat mit dem Europa von heute kaum Ähnlichkeit. Mit und durch den ESC hat sich der Kontinent, der eurovisionär auch Israel, die Kaukasus-Länder und seit 2015 auch Australien umfasst, hybridisiert. Und zwar nicht allein aus Gründen von Einwanderungen aus nichteuropäischen Gegenden, sondern weil die popästhetische Moderne inzwischen überall goutiert wird: Wer beispielsweise ukrainischen Folk hören will, darf sich nicht in der Ukraine umhören – der sollte, dort werden diese alten Stile konserviert, nach Brooklyn, New York City, gehen, weil dort die ukrainische Community, ansässig seit 100 Jahren, nostalgisch gepflegt wird, was die ukrainische Jugend nicht mehr als Pop hört.

Die stilistische Hybridisierung – ein Glücksfall

Die stilistische Hybridisierung war und ist allerdings auch deshalb für alle teilnehmenden Länder geboten, weil es ja nicht darauf ankommt zu gewinnen – ein Glücksfall, das wissen alle -, sondern nicht Letzter zu werden. Das wäre beschämend. Empirisch haben die letzten Plätze im Laufe der Jahrzehnte des ESC jene Acts belegt, die nationalfolklorehaft torfig und wie von Verwesungsgeruch behaftet daherträllerten.

Insofern ist dieser ESC in Liverpool auf der Höhe der Zeit, sogar so on top, dass es reichlich Sponsoren gibt: Marken, die sich von der Präsentation beim ESC starken Imagegewinn versprechen. Ein Prozess der eurovisionären Selbstprofessionalisierung, die darin mündet, dass die meisten Lieder eines Finalabends in den heimischen Charts landen, manchmal auch in allen ESC-Ländern, am stärksten die Schwedin Loreen, die 2012 mit „Euphoria“ siegte – ihr Lied zählte zum Soundtrack jenes Jahres, wie auch das Siegeslied vom vorigen Jahr, das Kalush Orchestra aus der Ukraine mit „Stefania“, in Berliner Clubs häufig zu hören war, und das nicht nur bei Ukraine-Soli-Abenden.

Insofern ist die kulturmelancholische Verfallsklage, die in einem Text im Freitag zu lesen stand, ein Zeugnis reaktionären, im Übrigen ahistorischen Bewusstseins: Dass der ESC immer farbloser, mainstraimiger geworden sei, ja, „abstrakten Pop“ nur liefere, war in anderen Formulierungsweisen auch 1974 nach dem Sieg von Abba beim ESC in Brighton zu hören. Und zwar in Schweden, wo das Kulturestablishment, wie eh und je wohl subventioniert, beklagte, mit dieser Band sei endgültig der US-Imperialismus kulturell über Schweden gekommen. So kurios das klingt: Der ESC war immer Anlass für Kulturkritiker, den Verfall ihres Liebsten, der bildungsbürgerlichen Kultur zu beklagen. Jedes Jahr mit gleichem Material – aber nie ist es anders als: Nichts Neues unter der Sonne.

Der ESC ist jeweils so modern oder mainstreamig oder faszinierend befremdlich, wie es die einzelnen Länder (besser: die dortigen Sender) mit ihren Auswahlverfahren wollen. Abstrakt jedenfalls ist nicht, was dieses Jahr zu beobachten ist: Als die Länder nicht mehr gezwungen wurden, nur in der Landessprache singen zu dürfen – weil Englisch für die einzige lingua franca des Pop (miss-)verstanden wurde -, sangen fast alle immer auf Englisch. Das scheint vorbei. Die meisten Acts der Finalisten am Samstag singen in ihren Landessprachen, was sich erfahrungsgemäß nicht mehr als Makel ausweist.

Der ESC lebt, und er tut das seit 1956. Jedes Jahr fühlen sich Traditionalisten düpiert – und wenden sich mit oft delirierenden Formulierungen ab. Allerdings verkennen sie, dass jedes Jahr neue Traditionen begründet werden, und irgendwann versterben auch sie mangels Zeitgeistanhaftung. Gut so! In Liverpool war noch nie so viel Diversität und popästhetische Konkretion. Abstrakt ist nur die Idee, die Welt ticke für immer wie einst in der eigenen Jugend.

Jan Feddersen, Jahrgang 1957, hat mehrere Bücher zum ESC verfasst, u.a. „Ein Lied kann eine Brücke sein“. Er war beim Eurovision Song Contest von 1992 bis 2019 jeweils live dabei, als Journalist. Er guckt dieses Event nach wie vor mit größtem Wohlgefallen.

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