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Ulrike Feldhoff bei der Arbeit. „Corona wirkt wie ein Verstärker“, sagt die ehrenamtliche Mitarbeiterin Foto: Rolf Zöllner

Telefonseelsorge in KrisenzeitenAm Notruf

Wenn bei Ulrike Feldhoff das Telefon läutet, muss sie auf alles gefasst sein: Suizidgefährdete und Einsame melden sich bei ihr, aber auch Scherzkekse.

Thomas Gerlach
Von Thomas Gerlach aus Berlin

D er Anruf war eher kurz, fünf, sechs Minuten. Der Mann sagte, er werde sich und seinen Sohn, der mit ihm im Zimmer sei, umbringen. Dann legte er auf. So erinnert sich Ulrike Feldhoff. „Das war kein Fake“, sagt sie. Schauspielerei, Geschmacklosigkeit, grotesker Ulk – das alles gibt es hin und wieder unter den Anrufen bei der Telefonseelsorge. Diese Ankündigung aber war ernst, da ist sich Feldhoff sicher. In den Tagen danach blätterte sie in Zeitungen. Nichts. Keine Notiz, keine Antwort. Es war ein Hilferuf ohne Echo.

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Dieses Gespräch, die Frage, was aus diesem Mann und aus diesem Kind geworden ist, habe sie lange beschäftigt. Damit muss man zurechtkommen, wenn man sich für die Telefonseelsorge entscheidet. Ulrike Feldhoff, eine konzentrierte, freundliche Frau, kommt damit zurecht, seit 25 Jahren.

Etwa dreimal im Monat macht sie sich von Spandau aus auf den Weg ins ehemalige Ostberlin, wo in einem Hinterhaus für die nächsten vier Stunden ein kleines Zimmer ihre Welt ist, Blick auf einen Baum, Schreibtisch, Bildschirm, brennende Kerze – beinahe ein adventlich gestimmtes Büro, wenn da nicht die Liege stünde, die Herrnhuter Losungen lägen. So wirkt es wie eine Klausur, besonders, wenn die Tür geschlossen wird. Einziger Kontakt nach draußen: ein Telefon.

„Kirchliche Telefonseelsorge“, wird Ulrike Feldhoff sagen und warten, dass ihr Gegenüber beginnt, dass er sich öffnet. Ihren Namen behält sie ebenso für sich wie den Ort, wo sie sitzt. Anonymität ist wichtig, in beide Richtungen. Ulrike Feldhoff wird zuhören. Jetzt hat sie noch etwas Zeit, steht in der Küche, macht einen Kaffee. Ist sie aufgeregt? Nein. Bereitet sie sich besonders vor? Nein.

Natürlich gibt es eine Vorbereitung. Jeder, der sich für den Dienst bei der Telefonseelsorge interessiert, durchläuft ein Curriculum – sieben Wochenenden, zehn Abende, zehn Hospitationen, verteilt auf ein Jahr. Wer dabeibleibt und zum ersten Dienst erscheint, der ist bereit. „Die ersten drei Jahre waren anstrengend“, räumt Ulrike Feldhoff ein. Jetzt, sie hat das Berufsleben hinter sich, ist sie eine der Dienstältesten. Ulrike Feldhoff zündet in der Etagenküche das Adventsgesteck an, „Wohlfühlatmosphäre“ nennt sie es.

Ein Guten Tag! verbietet sich. „Was kann ich für Sie tun?“ auch. Manchmal kann man nicht viel tun. Feldhoff: „Ich höre zu“

Wenn etwas wichtig sei, dann dies. Die Atmosphäre muss stimmen, im Gespräch sowieso, den Kontakt herstellen, ihn halten ist wesentlich. Wie geht das? „Authentisch sein“, sagt Feldhoff. Nichts sagen, was nicht gedeckt ist, keine Floskeln. Ein „Guten Tag!“ verbietet sich. Ein „Was kann ich für Sie tun?“ ebenfalls. Manchmal kann man nicht viel tun. „Ich höre zu“, sagt Feldhoff, „versuche, das Gespräch zu strukturieren“. Die Themen? Angst, Einsamkeit, Depression, Trauer, Verlust, Sucht, häusliche Gewalt.

Die Pandemie hat sich wie Rost in die Seelen gefressen. „Corona wirkt wie ein Verstärker“, sagt Ulrike Feldhoff. Jedes Problem erscheint noch größer, jeder Konflikt noch tiefer, jede Angst noch abgründiger. Schon seit März 2020 gibt es ein eigenes Coronaseelsorgetelefon. „Existenzängste, die sind ganz schlimm“, sagt Feldhoff, „besonders im Kulturbereich, bei Musikern, in der Gastronomie.“ Es gebe viele Anrufe.

Er habe durch Corona zwei Menschen verloren und seine Frau arbeite in der Pflege. Der Mann, der zum Telefon griff, will nicht auch noch seine Frau verlieren. Lässt sich diese Angst nehmen? Feldhoff schüttelt den Kopf. Wichtig ist, die eigene Hilflosigkeit nicht zu verbergen. „Wir sind ja nicht die, die die Welt retten“, sagt sie. Ein bisschen aber schon, manchmal. Er selbst habe sich impfen lassen, sagt ein Mann am Telefon. Seine Frau sei allerdings kategorisch dagegen, es sei denn, ihr Mann begleite sie. Soll ich?

Nicht nur für Christen: das Seelsorge-Telefon Foto: Rolf Zöllner

Nichts ist zu banal. Zureden, Hoffnung ­geben, Zweifel ausräumen, dafür haben die Ehrenamtlichen alle Zeit, die es braucht. Wer über die Sinnhaftigkeit von Coronamaßnahmen streiten will, wird ausgebremst. Diskutieren? Beleidigen? Diese Frau Merkel!, begann ein Mann, es folgten Kraftausdrücke. So rede ich mit Ihnen nicht weiter, habe Ulrike Feldhoff dem Anrufer entgegnet. Manche fangen sich wieder, sagt sie, andere nicht. „Dann beende ich das Gespräch.“

Es gibt noch einen anderen Grund, zügig Schluss zu machen. Wenn jemand sich zu befriedigen beginnt. „Da kommt man sich so benutzt vor“, sagt Ulrike Feldhoff. „Man möchte am liebsten duschen.“ Die sexuellen Belästigungen, vor wenigen Jahren noch ein Problem, seien allerdings deutlich zurückgegangen. Warum das so ist? Darauf hat keiner hier eine Antwort. Dass solche Anrufe selten sind, erleichtert die Arbeit.

Es gibt Leute, die wollen beten. Andere wollen Kirchenlieder singen. Bibel und Gesangbuch liegen bereit. Einmal ging der Gesang im Gelächter unter, sagt Feldhoff. Die Anruferin sang die evangelische Version, Feldhoff die katholische. Weinen kann erlösend sein, Lachen aber auch. Missioniert wird nicht. Notlagen ausnutzen, um Bibelverse vorzulesen – wer das versucht, muss gehen.

Eine Lotterie sponsert die Telefonseelsorge

Es ist elf Uhr am Vormittag. Dienstbeginn. Ulrike Feldhoff schließt die Tür. Eigentlich müsste darauf ein Bibelspruch geschrieben stehen, ein Jesuswort. „Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?“ Das würde doch gut passen. An der Tür hängt nur ein Zettel, „Berater KTS“ steht darauf, dazu der Sponsor von Mobiliar und Computer, die „Glücksspirale“.

Ausgerechnet eine Lotterie, Sinnbild für Gier, unterstützt die KTS, die Kirchliche Telefonseelsorge. Ein Mann läuft über den Flur. Uwe Müller, Stoppelbart, Steppweste und auf der Zunge ein selten gewordenes Berlinern, ist der Chef hier. Mehr noch, er hat die ganze Sache aufgebaut.

„Sie ist das Gesicht der Telefonseelsorge“, sagt Müller und deutet auf das Zimmer, in dem Ulrike Feldhoff gerade verschwunden ist. „Frau Feldhoff ist die Sprecherin der Ehrenamtlichen.“ Rund 150 Frauen und Männer arbeiten in seinem Team, erzählt Müller. Alle legen größten Wert auf Vertraulichkeit, Anonymität, die Schweigepflicht. Keiner würde plaudern. Das ist die Basis. Kein Anrufer soll wissen, wo die Telefonseelsorge arbeitet. Keiner soll klingeln, um sich persönlich zu bedanken. Oder zu beschweren. Auch die eigenen Nachbarn sollten nichts erfahren. Keiner soll abgehalten werden, zum Hörer zu greifen, nur weil er fürchtet, dass die Nachbarin abnimmt.

Ein offenes Ohr seit 1956

Anfänge im Westen Oktober 1956: Mit der Freischaltung der Nummer der „Lebensmüden­betreuung“ durch eine private Initiative in West­­ber­­lin begann die Arbeit der Telefonseelsorge in Deutschland. Bald darauf folgten Angebote der evangelischen und katholischen Kirchen in Kassel, Frankfurt am Main und weiteren Städten. Ab 1965 gibt es ökumenische Angebote.

Beginn in der DDR Die erste Telefonseelsorge in der DDR arbeitet seit 1986 in Dresden. In Ost­berlin begann Uwe Müller 1988 mit der Kirchlichen Telefonseelsorge (KTS). Sie arbeitet heute im Verbund mit Seelsorgestellen in Potsdam, Frankfurt (Oder) und Cottbus. Träger sind das Erzbistum, die Evangelische Kirche, evangelisch-freikirchliche Gemeinden, die Caritas und die Diakonie.

Für alle Menschen 2020 haben dort insgesamt 340 Ehrenamtliche 52.800 Anrufe entgegen­genommen. Das Angebot richtet sich an alle Menschen, Gläubige wie Konfessionslose und Atheisten. Es gibt darüber hinaus ein Corona­seelsorgetelefon, ein Kinder- und Jugendtelefon, eine jüdische Telefonseelsorge in russischer Sprache und ein mehrsprachiges muslimisches Seelsorgetelefon, dazu eine Onlineberatung. Deutschlandweit sind mehr als 7.500 geschulte Ehrenamtliche in 104 Städten oder Regionen in der Telefonseelsorge tätig, die 24 Stunden an 365 Tagen im Jahr Anrufe entgegennehmen.

Die Nummer Die Telefonseelsorge ist deutschlandweit unter den Rufnummern 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222 rund um die Uhr zu erreichen. Die Kosten trägt die Deutsche Telekom. (thg)

„Alles richtig“, sagt Müller. Allerdings schafft das ein Problem. Öffentlichkeitsarbeit ist nicht möglich. Das betrifft nicht nur Presse, sondern auch Ehrenamtsmessen, die Berliner Freiwilligenbörse, jeden öffentlichen Auftritt. Wenn man das alles vermeiden wollte, wäre man fast ein Geheimbund. Und so ist es Ulrike Feldhoff, die die Kirchliche Telefonseelsorge hin und wieder nach außen vertritt.

Behutsame Ermutigung zum Sprechen

Uwe Müller ermutigt seine Leute behutsam, aus ihrem Seelsorgealltag zu berichten, anonym, diskret, ohne Details. Außenstehende sollen sich vorstellen können, wie der Dienst abläuft, sollen wissen, dass es nicht jeden Tag darum geht, Verzweifelte davon abzubringen, sich etwas anzutun. Oftmals genügt ein Wort, ein Gedanke, ein Stück Hoffnung. „Wenn jemand anruft und nach dem Sinn einer Krankheit fragt, dann kann ich das nicht beantworten“, sagt Müller. „Aber ich kann stellvertretend Hoffnung haben für die, die gerade keine haben.“ Das ist so etwas wie der tiefere Kern der Arbeit. „Ich lege großen Wert darauf, dass man uns abspürt, dass wir ein christliches Menschenbild haben.“ Ein Seelsorger mit fast 35 Jahren Erfahrung hat es so formuliert: „Der Glaube nimmt mir den Druck. Es ist nicht allein meine Verantwortung, denn es sitzt immer noch ein Dritter mit am Tisch.“

Natürlich gibt es „Akutfälle“. Jeden Tag nehmen sich nach Angaben der Stiftung Deutsche Depressionshilfe 25 Menschen das Leben, schätzungsweise 500 weitere versuchen es täglich. Pro Jahr sind das etwa 9.300 Suizide. Es kommt vor, dass jemand anruft und eröffnet, dass er eine Überdosis Tabletten genommen hat. Eine Frau, unheilbar krank, erklärte, sie wolle sterben, aber nicht allein. Irgendwann war ihr Atem nicht mehr zu hören. Andere lassen sich umstimmen.

Seelsorger mit 35 Jahren Erfahrung: Uwe Müller hat die Berliner Einrichtung gegründet Foto: Rolf Zöllner

Ein Suizid richte sich oft gegen andere, sagt Müller. Wer sollte denn eigentlich sterben? Ich kann mir vorstellen, dass Sie wütend sind. Mit solchen Sätzen könnten tiefsitzende Aggressionen gehoben werden. „Aggression ist nichts Schlimmes, das ist Lebensenergie.“ Man sollte aber wissen, wie man damit umgeht. Es gibt an den Telefonen eine Handlungsanweisung für den Fall, dass sich ein Suizidgefährdeter umstimmen lässt, er aber unter dem Einfluss von Tabletten nicht mehr in der Lage ist, den Notarzt zu rufen, die Wohnungstür zu öffnen.

Müller ist in sein Büro gegangen. Für die Telefonseelsorge braucht er Menschen mit Lebens- und mit Krisenerfahrung. Da ist er die Idealbesetzung. Müller, Jahrgang 1959, macht mit 16 eine Lehre als Autoschlosser, treibt sich auf Ostberliner Straßen herum und findet zufällig den Weg in eine Gemeinde und zur kirchlichen Behindertenarbeit. Mit 19 lässt er sich taufen, verweigert den Wehrdienst und kommt in den Knast. Weil seine Mutter unter der Belastung zusammenbricht, gibt Müller nach, geht zur Armee und ist Schikanen ausgesetzt.

Aus den Anfängen zu DDR-Zeiten

Nach der Entlassung studiert er Sozialpädagogik an einer kirchlichen Hochschule. Müller, der selbst einmal an Straßenecken abgehangen hat, kümmert sich anschließend in der Offenen Arbeit, einem damals neuen sozialdiakonischen Ansatz, um Gestrandete, für die es keinen Platz in der „sozialistischen Gesellschaftsordnung“ gibt oder die ihn partout nicht einnehmen wollen. Im Prinzip ist die Telefonseelsorge, die Müller ab 1987 in der DDR aufbaut, die Fortsetzung dieses Konzepts. Dass es kaum Telefone gab, dass sich oft genug die Stasi zwischenschaltete, das alles schränkte Seelsorge ein, entwertete sie aber nicht. „Die Leute haben sich den Wecker gestellt und sind nachts zur Telefonzelle gegangen“, erinnert sich Müller.

Inzwischen ist seine Gründung eine der größten Telefonseelsorgeeinrichtungen in Deutschland mit nur zwei Hauptamtlichen und einem Haushalt von 260.000 Euro im Jahr. Im Verbund mit drei weiteren Stellen in Potsdam, Cottbus und Frankfurt (Oder) decken insgesamt 340 Ehrenamtliche einen Einzugsbereich von 17 Millionen Menschen zwischen Norddeutschland und Sachsen ab, die 2020 rund 52.800 Anrufe entgegengenommen haben.

Das Haus im alten Ostberlin ist zu einem Seelsorgezentrum geworden. Hier haben sich neben der Kirchlichen Telefonseelsorge, das Coronaseelsorgetelefon, ein Kinder- und Jugendtelefon, eine jüdische Telefonseelsorge in russischer Sprache und ein mehrsprachiges muslimisches Seelsorgetelefon etabliert. Wer will, kann sich online beraten lassen. Kurzum – hier hat jemand ein seelsorgerliches Opus magnum geschaffen. Es dürfte für die fünf kirchlichen Träger nicht einfach werden, in wenigen Jahren einen Nachfolger für Müller zu finden.

Die Dauerthemen: Verlustängste, Liebesentzug, Kränkungen

Haben sich die Motive geändert? Müller, der auch heute noch Seelsorgedienst hat, verneint. Verlustängste, die Angst, zurückgewiesen zu werden, Liebesentzug, Kränkungen – es ist der ewige Stoff, der die Seele bedrückt. Aber was ist das eigentlich, die Seele? Er kommt ja aus der Offenen Sozialarbeit, beginnt Müller, aber „Deckel drauf, Kiste zu, das war’s!“ war auch damals nicht das abgebrühte Credo. Dann zitiert Müller den „alten Fischbeck“, einen frommen Physiker und eine Berühmtheit in der DDR-Opposition: „Seele ist Energie, und Energie geht nicht verloren!“ Ein schlüssiger Gedanke, und ein tröstlicher dazu. „Wir wissen nicht, wohin diese Energie geht“, sagt Müller, doch einen Ort, „um weiter gut zu wirken“, den suche sie sich.

Und noch etwas braucht die Seele – Futter. Das spürt Müller nicht nur bei den Anrufen, sondern auch in seinem Team. Im ersten Lockdown haben seine Leute Sonderschichten gemacht, es gab zusätzliche Leitungen. Die Zahl der Anrufe hatte sich verdoppelt. Eines Tages kam eine Mitarbeiterin zu Müller und sagte, sie könne nicht mehr arbeiten, wenn ihre Seele nicht gefüttert werde. Ihr Futter, das waren Theater, Philharmonie, das Konzert-Abo. Alles unterbrochen, alles unzugänglich. Sie hat die Telefonseelsorge verlassen. „Ich muss ­rausgehen können, in die Natur, in das Museum, in die Ausstellung“, bekräftigt Müller. „So hat jeder sein Futter, solange er sich nicht die Hucke vollsäuft.“

In Müllers Bücherregal steht eine Batterie Weinflaschen. Futter für die Seele? In gewisser Weise schon. Der Wein war für die Adventsfeier auf dem Innenhof gedacht, wo man zusammenkommen wollte. Solche Stunden sind wichtig. Alle, die ehrenamtlich in Müllers Team arbeiten, betonen, wie wertvoll für sie die Gemeinschaft ist. Müller hat die Feier wegen der Pandemie absagen müssen. Auch für die Telefonseelsorge wird es schwieriger. Wer ins Haus hineinwill, muss unbedingt getestet sein. Die Telefone müssen schließlich besetzt bleiben.

Ulrike Feldhoff steht in der Küche, trinkt einen Kaffee. Halbzeit. Nach jedem Gespräch kann man sein Telefon abmelden, die Anrufe werden dann von der Telekom, die die Kosten der Telefonate übernimmt, auf andere Apparate in anderen Orten geleitet. Niemand muss warten. Wie viel Gespräche waren es bis jetzt? „Vier, fünf“, sagt Feldhoff, zwei sehr kurze, die anderen länger. Die meisten dauern zwischen 15 und 45 Minuten. Die sehr kurzen könnte man unter Scherz­anrufe abtun. „Testanrufe“ nennt man sie hier aber. Sollte jemand aus Jux die Nummer wählen, weiß er, dass am anderen Ende jemand abnimmt, für den Ernstfall.

Ulrike Feldhoff, die in der Pharmaindustrie gearbeitet hat, ist 1996 über eine Anzeige in einer Kirchenzeitung zur Telefonseelsorge gekommen. Feldhoff, katholisch erzogen, aufgewachsen in Essen, wollte sich wieder ehrenamtlich engagieren, nachdem sie zur katholischen Kirche auf Abstand gegangen war. Es hätte auch etwas anderes sein können, sagt Ulrike Feldhoff, sicher auch etwas Leichteres. Die einjährige Ausbildung führt an Grenzen, der Dienst tut es auch. Geld gibt es keins, auch keine Aufwandsentschädigung. Was bleibt, ist der Gotteslohn. Warum macht sie das? „Man kriegt jede Menge zurück, und man lernt eine Menge.“ Über andere Menschen, andere Realitäten, andere Lebensentwürfe.

Kirchliche Telefonseelsorge: Wichtig ist das Zuhören Foto: Rolf Zöllner

Redet man mit anderen aus dem Team, hört man immer wieder von diesen Motiven – das Leben in all seinen Facetten kennenlernen, sich dabei selbst verstehen und darüber im Gespräch bleiben mit der Gruppe. Es muss wie eine immerwährende Reise zum eigenen Selbst sein. Das gibt tiefe Zufriedenheit, das gibt Halt, vielleicht sogar Weisheit. Monatlich treffen sie sich zur Supervision.

Die Ausbildung: Nichts für schwache Seelen

Insbesondere das Ausbildungsjahr hat es in sich. „Wer die Ausbildung macht, der lernt was über sich und das Leben“, sagt Uwe Müller lakonisch und zieht ein Paket Taschentücher aus der Weste. Die habe er immer dabei, denn es fließen Tränen. Warum diese Tortur? Es komme oft vor, dass Telefonseelsorger in der Lebensgeschichte, die ein Anrufer preisgibt, plötzlich das eigene Drama erkennen. Darauf sollten sie vorbereitet sein.

Heiligabend ist ein besonderer Tag. Aber nicht, weil es besonders schwere Anrufe zu bewältigen gäbe. Die Weihnachtszeit mit ihren Erwartungen, Enttäuschungen und der ganzen Kümmernis beginne schon viel früher, sagt Müller. Heiligabend hingegen rufen viele an, um Danke zu sagen für die Hilfe und die Zeit, die unbekannte Menschen unbekannten Menschen erwiesen haben. Auch so etwas wie Bescherung. Zu Silvester wiederhole sich das. Und danach beginnt es wieder von vorn.

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