Teilweiser Rückzug russischer Truppen: Glücksgefühl trotz Raketenbeschusses
Mit ungläubigem Staunen verfolgen die Ukrainer die militärischen Erfolge in der Region Charkiw. Gleichzeitig feuert Russland verstärkt Marschflugkörper.
Am Abend des 12. Septembers erreichten Einheiten der ukrainischen Armee in einigen Gebieten im Norden der Region Charkiw die Grenze zu Russland, befreiten die strategisch wichtigen Siedlungen Weliky Burluk und Dworitschna im Nordosten sowie die ehemaligen regionalen Zentren von Izjum, Balaklija und Kupjansk.
Zudem stießen sie zum Fluss Oskol vor, der an der östlichsten Grenze der Region liegt. So wurde das Territorium, das russische Truppen etwa zwei Monate lang mit blutigen Kämpfen besetzt und dort ihre Stellungen mehr als vier Monate lang gehalten hatten, in nur einer Woche befreit.
Gründe für diesen Erfolg, so sehen es Analyst*innen, gibt es mehrere: Die große Motivation der ukrainischen Soldaten, die Hilfe der lokalen Bevölkerung bei der Identifizierung feindlicher Stellungen, moderne Waffen, die die Ukraine von ihren Unterstützern erhalten hat, die Ausbildung, die die Angehörigen der ukrainischen Streitkräfte in westlichen Ländern genossen haben. Und last, but not least: eine völlig neue Technik in Form eines „Kaskadenangriffs“. Hierbei rücken ukrainische Bodentruppen mit großer Geschwindigkeit vor und schaffen es, die Russen daran zu hindern, sich einzugraben.
Dank dieser Taktik ist der ukrainischen Armee auch eine große Anzahl von „Trophäen“ in die Hände gefallen: Die Russen haben schwer gepanzerte Fahrzeuge auf Raupenketten zurückgelassen, weil diese zu langsam waren und es unmöglich war, mit ihnen zu entkommen. Aber auch ohne die gepanzerten Fahrzeuge gelang es nicht allen russischen Soldaten, die Beine in die Hand zu nehmen.
„Russischer Kriegs-Triathlon“
Im Netz zirkulieren viele Videos, wie Soldaten der angeblich „zweitstärksten Armee der Welt“, wie die russische Propaganda die Streitkräfte der Russischen Föderation nennt, Anwohner*innen Zivilkleidung und Fahrräder wegnehmen. Damit versuchen sie vorzutäuschen, zur lokalen Bevölkerung zu gehören – mit dem Ziel, sich vor den Verteidigungskräften der Ukraine zu verstecken. Die Russen müssten laufen, durch einen Fluss schwimmen und Fahrrad fahren – „russischer Kriegs-Triathlon“ lästern User*innen im Netz.
Außer den Besatzern versuchen auch Kollaborateure, das Charkiwer Gebiet zu verlassen, also diejenigen, die die Ukraine verraten und sich freiwillig in den Verwaltungen der Besatzer und der sogenannten Volksmiliz engagiert haben. Auf solche Menschen verweisen die Ukrainer*innen mit sichtlicher Genugtuung, während sie mit Tränen in den Augen die ukrainischen Soldaten begrüßen.
Um einer strafrechtlichen Verfolgung zu entgehen, fliehen die Kollaborateure nach Russland oder in die noch besetzten Gebiete der Region Luhansk. Auch unter der Zivilbevölkerung im Osten der Ukraine gibt es Absetzbewegungen in Richtung Russland, des Landes, in dem sie von nun an leben wollen.
Die militärischen Erfolge in der Region Charkiw – die Menschen in der Ukraine verfolgen sie mit Freude und ungläubigem Staunen. Das betrifft vor allem Bewohner*innen der besetzten Gebiete, die mit der Ankunft der Russen aus ihren Häusern fliehen mussten. Tatsächlich ist es derzeit noch kaum zu glauben, dass viele Menschen bald wieder in ihre Städte zurückkehren können. Vor sechs Monaten schien die russische Besatzung unerschütterlich und für immer zu sein.
Am 12. September hatte der russische Sänger Oleg Gazmanow in der besetzten Stadt Izjum ein Konzert unter dem Motto „Russland wird für immer hier sein“ veranstalten wollen – allein die Gegenoffensive der Streitkräfte der Ukraine machte diese Pläne zunichte. Dafür wird es demnächst eine offizielle Feier anlässlich der Befreiung Izjums geben.
Unerwartetes Glücksgefühl
In Russland will man sich mit der Vorstellung trösten, dass die Befreiung der Region Charkiw eine Art „Geste des guten Willens“ und ein organisierter Truppenabzug sei, jedoch erzählt die Zahl der Gefangenen und „Kriegstrophäen“ eine ganz andere Geschichte. Viele Bewohner*innen in Charkiw sagen, dass sie von einem unerwarteten Glücksgefühl ergriffen worden seien.
Die Menschen fordern jetzt die vollständige Befreiung des Territoriums der Ukraine und die Schaffung einer sogenannten Pufferzone in der Region Belgorod in Russland. Denn von hier aus werden jeden Tag Marschflugkörper und ballistische Raketen auf Charkiw abgefeuert, die systematisch die Infrastruktur der Stadt zerstören.
Allein in der Nacht zu Montag und am Montag selbst schossen die Russen dreimal Raketen auf die zivile Infrastruktur von Charkiw und Umgebung ab. In der Stadt gab es erneut einen halben Tag lang kein Wasser und keinen Strom. Da der russische Staat keine militärischen Erfolge erzielt, greift er zu geradezu terroristischen Methoden und will offenbar die Wärme-, Gas- und Stromversorgungssysteme in Charkiw zerstören, um die Stadt zumindest im Winter absolut unbewohnbar zu machen.
Besonders die ständigen Raketenangriffe aus Belgorod sind es, die eins deutlich machen: Für zu viel Euphorie ist es noch zu früh.
Aus dem Russischen: Barbara Oertel
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