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Teil 2 der „Vernon Subutex“-TrilogieDie bitteren Tränen der Pamela Kant

Im zweiten Band der Trilogie „Vernon Subutex“ schaut Virginie Despentes über den Rand ihres weißen Mittelklasse-Antihelden hinaus.

Despentes’ Kunst besteht darin, immer neu in die komplexen Biografien ihrer Figuren einzutauchen Foto: imago/Agenda EFE

In der Tradition großer Romanhelden ist Vernon Subutex ein Protagonist fast ohne Eigenschaften, ein schluffiger Jedermann Ende 40 mit auffallend „hellem Blick“, der weniger über seine geistigen Fähigkeiten erzählt als über sein Charisma. Gleichzeitig steckt er, wie es einmal heißt, noch „im letzten Jahrhundert […], als man sich noch Mühe gab, so zu tun, als wäre Sein wichtiger als Haben“. Was ihm prompt auf die Füße fällt. Am Beginn von Virginie Despentes’Romandreiteiler „Das Leben des Vernon Subutex“, dessen erster Band im Herbst auf Deutsch erschien, hatte Vernon seinen Pariser Plattenladen „Revolver“ – einstiger Knotenpunkt cooler und sogar prominenter Kundschaft im Viertel – bereits dichtgemacht und zwei Jahre vom Verkauf seiner Habe gelebt.

Subutex ist der Stellvertreter, an dem Despentes all jene Abstiegsängste durchspielt, die uns sozialversicherten Mittelschichtsmenschen vom nächtlichen Wachliegen vertraut sind, genau wie ihre interessante Kehrseite, die Befreiungsfantasie. Denn noch während man sich zwischen vier und fünf Uhr morgens fragt, ob man im Notfall lieber an der Lidl-Kasse oder bei DHL anheuern würde, kann einen auch der Gedanke streifen, ob es nicht äußerst erleichternd und sogar buchstäblich bereichernd wäre, mit weniger Besitz und Verpflichtungen auskommen zu müssen.

Indem Despentes ihren Ex-Plattendealer nach der Wohnungspfändung in Band eins bei einem Reigen (Ex-)Freund*innen unterkommen und Vernons Abstieg kapitelweise aus deren wechselnden Perspektiven erzählen ließ, eröffnete sie tiefe Einblicke in das Seelen­elend dieser semisesshaften Bobos zwischen 40 und 50, deren Jobs in Musikbusiness, Journalismus und Pornoindustrie die Digitalisierung seit den 90er Jahren radikal umgepflügt hat. Obendrein, und da spricht die 1969 geborene Autorin vermutlich aus eigener Erfahrung, haben die einst wilden Kreativ-Hipster schon die ersten Schlachten gegen das eigene Altern geschlagen und nicht selten verloren.

Ganz unten angekommen

Zu Beginn des gerade erschienenen zweiten Bandes ist Vernon allerdings wirklich ganz unten angelangt. Fast wäre er am Rande des Pariser Parks der Buttes-­Chaumont an einer Grippe krepiert, hätten nicht ein paar Obdachlose nach ihm geschaut. Schon im ersten Band blickte die Autorin über den Tellerrand der weißen Bobos und integrierte zum Beispiel Aicha, die religiös gewordene Tochter nordafrikanischer Einwanderer, oder den mit den Rechten sympathisierenden Fahrradkurier Loïc in ihr Figurenpanorama. Mit den Obdachlosen der Buttes-Chaumont erweitert sie das Spektrum noch mal beträchtlich.

Selbst die unwahrscheinliche Geschichte von Trinker Charles’ Lotto-Millionengewinn überzeugt bei Despentes: „Allmählich hat er sich an die Situation gewöhnt und begriffen, was er mit diesem Geld machen würde: nichts. Zuerst war er total baff, aber nach einigem Nachdenken fand er sein Leben das beste, das man führen konnte. Er würde es fortsetzen, nur in besser.“

Despentes taucht tief in die komplexen Innenwelten ihrer Figuren ein

Charles’ Einsicht in die Vorteile der Unbehaustheit gibt den heimlichen Startschuss für eine glückliche Wendung der bis dahin eher depressiven Niedergangserzählung. Vernons alte Freund*innen und Bekannte sind auf der Suche nach ihm, teils aus echtem Mitgefühl, teils, weil sie die Jagd auf sein einzig verbliebenes Kapital zusammengebracht hat: ein von ihm aufgezeichnetes letztes Interview mit dem toten Punkrock-Kumpel Alex Bleach, für das sich vom Pornostar Pamela Kant (!) bis zum fiesen Filmproduzenten Dopalet (eine Mischung aus Dominique Strauss-Kahn und Harvey Weinstein) viele interessieren.

Statt den verfilzten Freund nun fürs bürgerliche Leben zurückzugewinnen, folgt die Truppe ihm hinaus in den Park und dort in die Kneipe „Rosa Bonheur“, wo Vernon wieder auflegt und vielleicht an seinem Comeback als DJ-Schamane einer heroischen Musikvergangenheit feilt. All diese Come-Togethers zwischen Pennern und alternden Kreativen nähmen sich vielleicht gar zu utopisch-rosig aus, startete nicht gleichzeitig ein junges Frauentrio einen Rachefeldzug gegen Dopalet, der mittlerweile im Verdacht steht, ein sexistisches Verbrechen begangen zu haben.

Doch im Grunde sind solche Plotvolten nebensächlich und seien sie noch so raffiniert in den Wechselstrom der Perspektiven montiert. Despentes’außerordentliche Kunst besteht darin, mit treffender Beobachtungsgabe und reichlich Sarkasmus immer neu in die komplexen inneren Welten und Biografien ihrer Figuren einzutauchen – egal, ob es sich um die frustrierte Ehefrau eines erfolglosen Drehbuchautors handelt oder einen liberalen Geisteswissenschaftler mit Migrationshintergrund.

Zum Zerreißen gespannt

Dabei entsteht das vielschichtige Porträt einer pluralen Stadtgesellschaft, die trotz aller Emanzipationserfolge zum Zerreißen angespannt ist: „Er liebt dieses Land bis zum Wahnsinn“, heißt es etwa über den Uni-Dozenten Sélim. „Die Schulen, die sauberen Straßen, das Eisenbahnnetz, die unmögliche Rechtschreibung, die Weinberge, die Philosophen, die Literatur und die Institutionen. Aber die Franzosen um ihn herum leben nicht mehr in dem Frankreich, das ihn so begeistert. Sie leiden.“

Das Buch

Virginie Despentes: „Das Leben des Vernon Subutex 2“. Aus dem Französischen von Claudia Steinitz. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018, 400 Seiten, 22 Euro.

Gleichzeitig, das erfährt man wiederum bei Vernons linkem Kumpel Patrice, haben sich „die Leute seit zehn Jahren dermaßen das Gehirn waschen lassen. Man hat ihnen die ganze Würde geraubt, die sie in Jahrhunderten des Klassenkampfes erworben hatten, und der einzige gottverdammte Trick, den man ihnen verkauft hat, damit sie sich weniger scheiße fühlen, ist der Triumph, dass sie weiß sind und das Recht haben, auf jeden Dunkelhäutigen herabzusehen.“

Wohin treibt Vernon in dieser Gemengelage? Siegt die Befreiung oder am Ende doch die Angst? Teil 3, den – wie die beiden Vorgänger – die kongeniale Claudia Steinitz zupackend und mit viel Rhythmusgefühl übersetzt, wird sehnsüchtig erwartet.

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1 Kommentar

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  • Die Überzeugung, dass Sein wichtiger als Haben ist, wird niemals überholt sein. Es gibt Wahrheiten, die keiner Mode unterliegen. Diese gehört dazu. Weil: Menschen können auch ganz ohne Besitz immer noch (sie selbst) sein. Wenn sie aber nicht (mehr) sind, nützt ihnen keine Habe der Welt irgendwas.

     

    Im letzten Jahrhundert hat „man“ sich vielleicht wirklich bemüht zu wirken, als hätte man das verstanden. Wobei mit "man" jene Hippen, Coolen und Prominenten gemeint sein dürften, die heute aufgegeben haen. Weil der bemühte Schein einfach nicht lange trägt. Schon gar nicht lebenslänglich. Es sei denn, man stirbt schon mit Mitte 20.

     

    Allerdings: Wer wird sie eigentlich vermissen, die Schauspieler ihrer selbst? Ich nicht. Vermutlich nicht einmal sie selber. Weswegen ich sie auch nicht vor die Türe setzen würde, wenn sie mich fragen täten, wie echtes Leben (vielleicht) geht.