Tausch-Initiativen in Holland: Teilen ist das neue Kaufen
Ob Auto oder Kochkünste – über vieles muss man nicht selbst verfügen, um es zu nutzen. Aus der Krise entwickeln sich unterschiedliche Mini-Ökonomien.
3.698 Köche, 19.768 Mahlzeiten, 23.929 Abholer. Diesen Stand gibt das virtuelle Zählwerk der Webseite thuisafgehaald.nl aktuell an und jeden Tag werden es mehr. Eine der privaten Köchinnen, die ihre Kochkünste über die niederländische Webseite anbietet, ist Fleur de Sel, Blume des Salzes. Nachbarn, Unbekannte aus dem Wohnviertel, aus ihrer Stadt können über das Onlineportal auch in den Genuss einer Portion des Abendessens kommen, das Fleur de Sel für sich selbst kocht. Man kann es bei ihr in der Küche abholen. Die 41-Jährige ist seit einigen Wochen dabei, die Initiative existiert seit einem halben Jahr. Sie ist populär. Mittlerweile sind die Niederlande mit einem Netz an privaten Köchen, die für andere mitkochen, überzogen.
Fleur de Sel füllt Kürbisauflauf in die mitgebrachte Schüssel, in eine zweite kommt Salat aus Sellerie, Granatapfel, Walnuss. Die Köchin heißt eigentlich Estelle Boelsma und ist bildende Künstlerin. Sie hatte im Radio von der Initiative gehört. „Ich koche aus Leidenschaft und gut und will dieses Talent gern mit anderen teilen“, erzählt sie. „Wenn jeder, der bestimmte Qualitäten hat, mehr davon liefern kann, entsteht eine kleine Ökonomie.“
Es gibt einige Initiativen dieser Art. Kleider tauschen, selbst Gemüse anbauen, Kreditunionen von Betrieben, Crowdfunding und Ähnliches erfreuen sich zunehmender Beliebtheit. Und nicht nur in den Niederlanden. Spullendelen.nl beispielsweise, wo man Gebrauchsgegenstände leihen kann, operiert grenzübergreifend auch in Belgien und Deutschland. Bisher haben 5.667 Menschen 4.434 Gegenstände wie Rasenmäher, Leitern, Spaten, Motorsägen, Bohrmaschinen, Kameras, Staubsauger, Autos an Nachbarn, Freunde, Bekannte, Kollegen ausgeliehen. In den Städten Amsterdam, Rotterdam, Den Haag, Nijmegen arbeitet außerdem das neue digitale und bereits preisgekrönte Nachbarschaftsprojekt Peerby.nl. Wer dort Mitglied wird, kann meist teurere Gegenstände (ver)leihen oder (ver)mieten und kommt zudem noch mit Fremden in Kontakt.
Die neue Bewegung sei eine Reaktion auf die finanzielle Krise und die Habgier, erklärt Christine Boland, Inhaberin des Büros Christine Boland Trends & Mindsets, Amsterdam. Die Trendanalystin gehört zu einem Thinktank von zwölf niederländischen Trendbeobachtern, die kürzlich ihre Einschätzung der Zukunft veröffentlicht haben. „Nicht nur die Rezession ist der Grund, worum die Bewegung ein großer Trend wird“, sagt sie, „sondern Menschen sind außerdem enttäuscht, dass Habgier überall so manifest geworden ist.“
In kleinem Stil, auf lokalem Niveau
Thuisafgehaald.nl ist für die Analystin ein gutes Beispiel für die überall entstehenden alternativen Ökonomien. Denn „so kreiert man eine Mini-Ökonomie, in der Menschen eine Bedeutung für einander haben. Handeln in kleinem Stil, auf lokalem Niveau, dieser Trend wird stets größer. Teilen und tauschen ist kein Hype, sondern eine echte nachhaltige Bewegung“, ist Christine Boland überzeugt. Teilen und tauschen als Reaktion auf eine komplexe, komplizierte Welt, die stets schneller dreht und in der Geld und Gewinn die zentralen Werte waren.
„Menschen suchen nun nach dem menschlichen Maß“, so die Trendanalystin. „Es gibt eine Verschiebung, weg von Habgier und Egoismus hin zu mehr Zusammengehörigkeit und es geht nicht um das Geben um des Gebens willen, sondern auch darum, die eigene Lage zu verbessern. Man gibt etwas, man bekommt etwas zurück. Im Trend liegen nun multinationale Konzerne und lokale Ökonomien, also entweder extrem groß oder sehr klein. Und es ist eine Zeit des Sowohl-als-auch. Menschen suchen das Beste aus beiden Welten für sich aus“, erklärt Christine Boland.
„Kochen ist für mich einfach ein Vergnügen“, sagt Estelle Boelsma, „und Nahrung, ein gutes Abendessen, verbindet. Menschen werden glücklicher davon, deshalb gefällt mir thuisafgehaald.nl. So werde ich auch ein bisschen glücklicher.“ Und wie schmeckte das Essen aus der Küche der fremden Frau im eigenen Viertel? Nun: apart gewürzt, lecker, nach mehr.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Scholz bezeichnet russischen Raketeneinsatz als „furchtbare Eskalation“