Taubenschutz in Berlin: Vogelfreie Vögel

Tauben fallen durch sämtliche Raster des Berliner Tierschutzsystems. Ehrenamtliche versuchen darum, die Lage der Tiere auf eigene Faust zu verbessern.

Unzählige Tauben umschwärmen eine Frau, die Körner verstreut

Gerald Hürtgen ist nicht der einzige Taubenfütterer: Hier eine Ehrenamtliche am Hausvogteiplatz Foto: Schoening/imago

BERLIN taz | Eigentlich, sagt Gerald Hürtgen*, könne er mit Tauben wenig anfangen: „Ich mag sie nicht, von mir aus könnten die alle weg sein.“ Trotzdem steht er an diesem Sonntagmittag vor den Terrassen am Hafen in Alt-Tegel und verteilt kiloweise Vogelfutter auf dem Asphalt. Sofort nähert sich dem Mann mit dem Flappflapp etlicher Flügelpaare ein aufgeregt gurrender Schwarm. Die Tauben haben schon auf ihn gewartet.

Hürtgen ist nicht der Einzige, der sich um die Vögel kümmert. So gibt es in Berlin einige Taubenhilfsvereine, in denen Ehrenamtliche über Tauben aufklären, sich für ihren Schutz engagieren und regelmäßige Fütterungen organisieren – Hürtgen selbst geht noch einen Schritt weiter.

Aufmerksam beobachtet er die Vögel, sucht nach apathischen, abseits des Schwarms stehenden Tieren. Aber keine Auffälligkeiten. Den Vogelkescher, der neben ihm an einem Baum lehnt, braucht er heute nicht. Stattdessen holt er eine Transportbox heraus, öffnet das Gitter, tritt einen Schritt zurück und zwei Tauben, eine dunkelgraue und eine braune, flattern etwas ziellos in die Luft. Schnell mischen sie sich unter die fressende Masse.

„Es ist immer ein gutes Zeichen, wenn sich die Neuen direkt dazusetzen“, sagt Hürtgen. Drei, vier Wochen lang habe er die beiden Tiere bei sich zu Hause gepflegt, nachdem er sie bei einer seiner Fütterungen aufgelesen hatte. Zu klein oder zu krank für das Leben auf der Straße wären sie ansonsten wohl verendet.

Haustiere mit Image-Problem

Ein blutiger Haufen Federn in einer dunklen Ecke der Stadt löst bei vogelverdrossenen Ber­li­ne­r*in­nen meistens wenig Mitleid aus. Kein Wunder, der Ruf der Stadttaube ist gnadenlos schlecht: Nervig, schmutzig, Krankheiten verbreitend sollen die „Ratten der Lüfte“ sein. Besonders Schädlingsbekämpfungsfirmen werben gerne mit der Gefahr, die von den Vögeln ausgehen soll. Tatsächlich sind viele Stadttauben von Parasiten und Krankheiten befallen, aber auf den Menschen übertragbar sind die in der Regel nicht.

Stadttauben sind Nachfahren domestizierter, also zu Haustieren gezüchteter Felsentauben. Die Tauben, die heute die Städte bevölkern – in Berlin wird von 10.000 bis 20.000 Tieren ausgegangen –, wurden einmal von Menschen ausgesetzt, sind verirrte oder entflogene Brieftauben. Und ihre menschengemachten Eigenschaften machen es ihnen nicht leicht: Viele können ihr Gefieder nicht richtig putzen und wegen eines angezüchteten Brutzwangs brüten die Vögel wesentlich mehr Küken aus, als sie versorgen können. Dazu die ständigen Gefahren der Großstadt und der Mangel an geeignetem Futter, der die Tauben weitaus anfälliger für Krankheiten werden lässt.

Die Frage, welche Verantwortung der Mensch für das Taubenproblem besitzt, ist also nicht unberechtigt. Die Frage, was zu tun ist, wenn man denn ein hilfsbedürftiges Tier findet, ebenso wenig. Damit musste sich auch Hürtgen auseinandersetzen, als er vor einigen Jahren seinen ersten Pflegefall, eine Taube mit gebrochenem Flügel, fand. „Der Nabu hat ja Vögel in seinem Logo, da dachte ich, die müssen dir doch helfen können.“

„Schutzlücke“ für Tauben

Aber mit der Zuständigkeit für Stadttauben ist es in Berlin so eine Sache: Weil sie keine Wildtiere sind, fallen sie nicht in den Verantwortungsbereich der Naturschutzbehörden, heißt es auf taz-Nachfrage von der Tierschutzbeauftragten des Landes Berlin, Kathrin Herrmann. Stadttauben gelten demnach als Fundtiere, sind damit menschlicher Besitz. Verantwortlich seien deshalb die Fundbehörden.

Im Falle Berlins ist das das beim Bezirksamt Lichtenberg angesiedelte Amt für regionalisierte Ordnungsaufgaben. Hier sieht man die Angelegenheit indes schon wieder anders: Für Stadttauben „als freilebende Tiere“ sei man nicht zuständig, teilt das Amt mit. Kathrin Herrmann, deren Stabsstelle für Tierschutz wiederum der Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz zugeordnet ist, sieht hier eine „Schutzlücke“ für Stadttauben.

Diese Schutzlücke ist seinerzeit auch Hürtgen aufgefallen: „Warum kümmert sich da keine Sau drum, habe ich mich gefragt.“ Und so begann er, sich zu kümmern.

Acht Jahre später in Hürtgens Wohnung am Rand von Berlin. Der Taubenpfleger öffnet die Tür eines Badezimmers, das gänzlich mit Zeitungen ausgelegt ist. Drei Tauben schauen hoch, dann fängt es an: Krampfhaft verdrehen sie ihre Köpfe, schmeißen den Schnabel vor und zurück. „Dreher“ nennt Hürtgen sie, diese Tauben mit der Viruserkrankung Paramyxovirose. Nach der Infektion können die Tiere wochenlang unter Krämpfen und Lähmungen leiden und auch wenn die Krankheit selten tödlich verläuft: „Draußen haben sie kaum eine Chance. Bis sie einmal ein Korn erwischen, haben die anderen Tauben schon alles weggepickt.“ Also bleiben die Tiere erst einmal bei ihm.

Ein Zimmer weiter schleicht ein dicker Kater zwischen großen Plastikboxen herum, aus denen es munter gurrt. „Wenn die Tauben flattern, rennt er weg“, sagt Hürtgen und lacht. Beschriftete Zettelchen an den Boxen nennen Fundperson, Funddatum und Gesundheitszustand der Tauben. Namen stehen keine drauf. Wenn Gerald Hürtgen von den Tieren spricht, nennt er sie bei ihren Pflegegründen: „Kopf“, „Flügel“ oder „Tricho“ – kurz für Trichomonaden. „Sonst baut man zu schnell Bindungen auf.“

Hauseigene Mikroklinik

Aktuell kümmern sich er und seine Frau Rieke* um sieben Tauben. Das sei noch wenig, normalerweise lebten hier etwa ein Dutzend, erklärt Rieke Hürtgen. Ein Dutzend Vögel, für deren Fütterung, Pflege und Untersuchung das Ehepaar neben ihren Vollzeitjobs täglich drei Stunden aufbringe. Längst haben sich die Hürtgens eine eigene Mikroklinik in ihrer Wohnung eingerichtet: auf dem Schreibtisch ein großes Mikroskop, in den Schubladen Schläuche, Futterspritzen und Medikamente.

Es klingelt, eine andere Ehrenamtlerin steht vor der Tür. Unter dem Arm eine kranke Taube, gefunden bei einer Fütterung. Gerald Hürtgen greift nach dem Vogel, entfaltet die Flügel und zeigt auf längliche, braune Punkte zwischen den Federn: „Federlinge, so was wie Läuse für Tauben“, erklärt er. Dagegen helfe ein spezieller Puder. Dann wird die Kloake untersucht und ein Abstrich aus dem Rachen des Vogels genommen, unter dem Mikroskop sucht Hürtgen nach Hefepilzen und Trichomonaden. Über das Internet habe er sich alles beigebracht, sagt er, eine Weile habe das schon gedauert.

Die Bedingungen, unter denen die Pflege abläuft, sind nicht leicht: ständig die Angst, der Vermieter könnte von den Vögeln erfahren. Man habe von anderen mitbekommen, denen die Ver­mie­te­r*in­nen die Haltung der Tauben verboten hätten. „Und dann hast du ein Problem“, erklärt Hürtgen. Deshalb ist er streng darauf bedacht, andere Mie­te­r*in­nen nicht von der Taubenpflege erfahren zu lassen. Und wenn der Wasserzähler abgelesen wird, bringe man die Tiere in einen anderen Raum. „Hilfe im Untergrund“, beschreibt es Hürtgen, der seinen echten Namen deshalb nicht veröffentlicht sehen will.

Der Ehrenamtler würde die Tauben am liebsten von professioneller Seite versorgen lassen. Für die Einrichtung einer staatlichen Pflegestelle fehle es bisher aber „an der Bereitschaft der politischen Entscheidungsträger“, so die Landestierschutzbeauftragte Kathrin Herrmann. Zwar haben sich CDU und SPD in ihrem Koalitionsvertrag für die Einrichtung eines „Taubenmanagements“ ausgesprochen. Wie genau dieses Management aussehen soll, bleibt aber offen.

Lösungsvorschlag stößt auf Skepsis

Hürtgen und seine Mit­strei­te­r*in­nen fordern in diesem Zusammenhang vor allem eines: die Einrichtung betreuter Taubenschläge. Diese gelten als einzig wirksames Mittel, um die Taubenpopulation einer Stadt auf Dauer zu senken. Hier sollen sich Tauben einnisten, die mit Futter und Wasser versorgt werden und deren Eier Ehrenamtliche regelmäßig durch Gips­attrappen austauschen.

In Spandau gibt es bereits so einen Schlag, allerdings rein privat finanziert und aktuell von der Schließung bedroht. Nach Recherchen des RBB betreibt außerdem die gemeinnützige C.U.B.A. GmbH mehrere Taubenschläge in Reinickendorf und einen am S-Bahnhof Südkreuz. Die Bezirke Treptow-Köpenick und Marzahn-Hellersdorf sind grundsätzlich offen dafür, eigene Schläge einzurichten.

Nicht so in Pankow. „Schon aus praktischen Gründen“ sei dieses Konzept untauglich, „weil mit erheblichem finanziellen und personellen Aufwand Hunderte solcher Taubenschläge errichtet und betrieben werden müssten“, heißt es aus dem Großbezirk. Auch in Neukölln, Lichtenberg und Friedrichshain-Kreuzberg fehle es nach eigenen Angaben an Personal oder Geld. Zwar können die Bezirke für den Bau der Schläge Mittel vom Senat beantragen; für die laufenden Kosten, etwa für Futter und Reparaturen, müssen sie aber selbst aufkommen.

Die Berliner Stadttauben sind die Verlierer eines städtischen Tierschutzsystems, das nicht bereit – oder fähig – ist, Verantwortung für seine ausgeflogenen Haustiere zu übernehmen. So werden die fedrigen Systemsprenger wohl erst einmal auf ehrenamtliche Hel­fe­r*in­nen angewiesen bleiben, die sich mit Zeit und Geld um die Tiere kümmern. Warum sie das tun? Hürtgen sagt: „Weil man Empathie für sie empfindet. Wenn man eine Taube sieht, die Hilfe braucht, kann man versuchen, ihr zu helfen, oder sie verrecken lassen. Da kann ich doch nicht einfach weitergehen.“

*Name von der Redaktion geändert

Hinweis: In einer früheren Version des Artikels war noch nicht von den Taubenschlägen in Reinickendorf und am Südkreuz die Rede. Sie wurde nachträglich ergänzt.

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