Taubblindheit: Raus aus der großen Isolation

Wie lässt sich ein selbstbestimmtes Leben führen, wenn man nicht oder kaum sieht und hört? Die Inklusion taubblinder Menschen ist noch ganz am Anfang.

Die Assistentin schreibt in Katrin Dinges' Hand

Katrin Dinges (links) und ihre Assistentin kommunizieren über das Lormen Foto: Sebastian Wells

Es beginnt mit einem Händeschütteln. Am Eingang zu ihrer Wohnung greift Katrin Dinges nach der Hand ihres Gastes, um einen ersten Eindruck zu gewinnen: groß oder klein, warm oder kalt, die Form, der Druck. Die Person dazu kann sie nicht sehen und oft auch nicht verstehen. „Manchmal geben mir die Leute gar keine Hand, dann steh ich da mit meiner ausgestreckten Hand und es entsteht ein seltsames Vakuum.“

Katrin Dinges ist 33, Künstlerin, Lyrikerin, vor einem Jahr hat sie ihr Studium der Literaturwissenschaft und europäischen Ethnologie an der HU abgeschlossen. In ihrem Schwerbehindertenausweis steht „TBL“ für taubblind. Aufgrund einer genetischen Abweichung, dem Alström-Syndrom, ist Dinges als Jugendliche erblindet, seit ihrem 16. Lebensjahr trägt sie Hörgeräte. Nach einem Hörsturz vor 10 Jahren ist sie außerdem auf dem linken Ohr ertaubt. „Ich kann zwar hören, wenn jemand spricht, aber ich weiß nicht, aus welcher Richtung es kommt und kann es auch meistens nicht verstehen. Das ist das, womit ich leben muss.“

Katrin Dinges ist typisch und untypisch zugleich für die Lebenswirklichkeit der Taubblinden in Deutschland: Wie die meisten als taubblind eingestuften Menschen verfügt sie noch über einen Sinnesrest, die Kommunikation auf diesen Kanälen ist aber stark eingeschränkt. Weil Dinges lange nach der Geburt erblindet und schwerhörig geworden ist, stehen ihr aber Wege offen, die anderen Taubblinden verschlossen sind. „Aber selbst ich, die ich für eine taubblinde Person echt privilegiert bin, stoße an so viele Grenzen, drohe so oft die Kraft zu verlieren. Wie muss es da anderen gehen?“

Bis zu 10.000 taubblinde Menschen gibt es in Deutschland, die Dunkelziffer soll hoch sein, weil viele ohne genaue Diagnosen in Wohnstätten, Altersheimen oder zuhause isoliert leben. „Taubblind leben in Deutschland, das ist ein Leben am äußersten Rand der Gesellschaft, vielfach ein Leben in menschenunwürdigen Verhältnissen, eine Lebenswelt, die von der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen wird“, schrieb Ursula Benard im November 2016 in ihrem Buch „Wenn einem Hören und Sehen vergehen“. Die Autorin hat in Nordrhein-Westfalen jahrelang mit Taubblinden gearbeitet und mit ihnen zusammen um eine Anerkennung als eigenständige Behinderung mit besonderen Bedürfnissen gekämpft.

Demonstration der Taubblinden

2013 gingen in der weltweit ersten Demonstration hör- und sehbeeinträchtiger Menschen Hunderte in Berlin auf die Straße. Es war ein stiller Zug mit Plakataufschriften wie „Taubblinde in Isolationshaft“ und der Forderung nach der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Seit Dezember 2016 gibt es nun das Merkzeichen TBL – erstmals ist Taubblindheit als eigenständige Behinderung anerkannt. Als taubblind gelten demnach alle Menschen mit einem Grad der Behinderung von 100 wegen einer Störung des Sehvermögens und mindestens 70 wegen einer Störung der Hörfunktion. Interessenvertretungen wie dem Deutschen Taubblindenwerk ist das zu eng gefasst: Bei allen Menschen, deren Fähigkeit zur visuellen und akustischen Kommunikation so stark eingeschränkt ist, dass sie weder Gebärdensprache klar sehen noch Lautsprache gut hören können, ergäben sich schließlich die besonderen Bedürfnisse von taubblinden Menschen.

Die Sinnesbehinderung Eine der bekanntesten Taubblinden ist Helen Keller – das Leben der 1880 geborenen amerikanischen Schriftstellerin wurde mehrfach verfilmt. In Deutschland wurden Menschen, die zugleich hör- und sehbehindert sind, bis vor Kurzem als mehrfachbehindert eingestuft – ungeachtet der Tatsache, dass die Kombination eine eigenständig zu betrachtende Behinderung mit ganz spezifischem Bedarf bedeutet, weil die Beeinträchtigung des einen Sinns nicht durch den anderen kompensiert werden kann. Deshalb wird von Taubblindheit auch nicht erst dann gesprochen, wenn beide Sinne komplett ausgefallen sind. Seit dem 30. Dezember 2016 ist Taubblindheit mit dem Merkzeichen „TBL“ als eigenständige Behinderung anerkannt.

Die Ursachen Mehr als 70 verschiedene Ursachen gibt es für Taubblindheit. Zu den häufigsten gehören genetische Abweichungen wie das Usher- oder das Charge-Syndrom oder die Komplikationen nach extremen Frühgeburten. Früher trat Taubblindheit auch als Folge einer Röteln-Erkrankung der Mutter während der Schwangerschaft auf. Das kommt aber durch die entsprechende Impfung heute kaum mehr vor. Interessenvertretungen gehen davon aus, dass bei älteren oder geistig behinderten Menschen eine erworbene Taubblindheit häufig gar nicht diagnostiziert und das Problem der Kommunikation stattdessen zum Beispiel als Demenz verkannt wird.

Die Kommunikation Das Lormen, ein in die Hand geschriebenes Alphabet, kann auch von nicht taubblinden Menschen schnell erlernt werden. Außerdem gibt es die taktile Gebärdensprache, eine Abwandlung der unter Gehörlosen verwendeten Gebärdensprache, bei der die Gebärden auf kleinem Raum ausgeführt und vom Gesprächspartner erfühlt werden. (mah)

So oder so kann auch ein Merkzeichen nur ein Anfang sein. Nur in wenigen Bundesländern folgen aus der Anerkennung als taubblind auch direkte Leistungen. Berlin gehört seit diesem Jahr dazu. Mit dem zum 1. Januar geänderten Landespflegegeldgesetz stehen BerlinerInnen mit dem Merkzeichen TBL 1.189 Euro Pflegegeld im Monat zu – unabhängig von Einkommen und Vermögen. Auch Katrin Dinges profitiert von dieser Neuregelung, hat nach Bewilligung mehrere Hundert Euro mehr im Monat zur Verfügung. Doch warum dies im Leben vieler Taubblinder nur ein Schritt auf dem Weg hin zu einem selbstbestimmteren Leben sein kann, wird verstehen, wer den Alltag Katrin Dinges genauer betrachtet.

Katrin Dinges ist ein geselliger Mensch, „ich kenne viele Leute und vernetze mich gern“. Sie begeistert sich für Musik, tanzt seit sie drei ist, macht Kunst, die man fühlen kann, gibt Workshops. Solange sie „nur blind“ war, aber noch recht gut hören konnte, konnte sie sich sehr eigenständig bewegen, sich an Seminaren und Vorlesungen beteiligen. „Der Hörsturz war ein Riesenschock.“ Danach saß sie in Vorlesungen nur noch wie ein Theatergast, der zeitverzögert das Drehbuch liest. Eine Beteiligung war unmöglich. Es brauchte Zeit, um mit der neuen Situation zurechtzukommen – und besondere Unterstützung und Fertigkeiten.

Wenn Katrin Dinges heute mit anderen kommunizieren möchte, hat sie drei Möglichkeiten. Erstens: Die Person spricht sehr laut in ihr rechtes Ohr, am besten in einer mittleren Stimmlage und in einem ruhigen Raum. Weil das nur selten so klappt, bevorzugt Dinges den zweiten Weg: Eine Assistentin oder der Gesprächspartner selbst tippt in einen Laptop, der mit Dinges’ Braillezeile per Bluetooth verbunden ist und das getippte in Blindenschrift übersetzt. Kleine Metallstifte schnellen dann auf der Braillezeile in die Höhe und ergeben Buchstaben und Worte, die Dinges mit ihren Fingern erfühlt. So kann sie leicht zeitverzögert auch Fragen stellen und antworten – bei Veranstaltungen, früher in Vorlesungen oder jetzt beim Interview mit einer Zeitungsjournalistin.

Und drittens: das Lormen. Dinges’ Assistentin streicht ihr über den kleinen Finger, tippt dann an die Daumenspitze, streicht zweimal vom Mittelfinger in die Handfläche, tippt an die Spitze des Ringfingers: H – A – L – L – O. Das Lorm-Alphabet wurde im 19. Jahrhundert von dem österreichischen Schriftsteller Hieronymus Lorm für den Eigengebrauch entwickelt. Katrin Dinges nutzt es mit ihren Assistentinnen, anderen Taubblinden und einzelnen Freundinnen, wenn sie an lauten Orten unterwegs und der Laptop nicht verfügbar ist.

Assistenz als einzige Option

Für nahezu jeden Einkauf, jeden Besuch, jede Veranstaltung braucht Dinges inzwischen Assistenz. „Manchmal gehe ich auch noch allein nach draußen, an Orte, die ich sehr gut kenne, aber das ist sehr anstrengend für mich.“ Der Rest Hören, der ihr noch bleibt, reicht oft nicht zur Orientierung, in lauter Umgebung ist sie schnell erschöpft. Ohne Assistenz hat Dinges nur den Taststock. Wenn sie am falschen Ort landet, wie vor ein paar Monaten, als sie verabredet war und nicht am richtigen S-Bahn-Gleis stand, hilft nur fragen. „Ich bin zum Glück nicht schüchtern.“ Aber auch das geht nur, weil Dinges sprechen kann und mit dem rechten Ohr noch ein wenig hört. Was passiert, wenn sie auch ihren Hörrest noch verliert? „Horror, darüber will ich nicht nachdenken“, sagt Dinges. Für viele Taubblinde ist Assistenz die einzige Möglichkeit, die Wohnung zu verlassen. So wird die Wohnung zum sicheren Ort und Gefängnis zugleich.

Katrin Dinges füht ihre Finger über ihre Braillezeile

Katrin Dinges liest mithilfe einer Braillezeile für Blinde Foto: Sebastian Wells

Tatsächlich gibt es speziell geschulte TaubblindenassistentInnen, die das Lormen, Führtechniken und die deutsche Gebärdensprache beherrschen. Taubblinde müssen diese Assistenz beim Sozialamt beantragen, das ihnen dann nach eingehender Prüfung des Bedarfs ein Stundenkontingent bewilligt. Dabei werden Einkommens- und Vermögensverhältnisse einbezogen. Sprich: Wer geerbt hat, eine Rente bekommt oder vor dem Sinnesverlust gut verdient und gespart hat, soll bei der Bezahlung in die eigene Tasche greifen. Bei 49 Euro pro Assistenzstunde schmelzen auch die 1.189 Euro, die es in Berlin jetzt als Pflegegeld für taubblinde Menschen gibt, schnell dahin.

Dinges hat vom Sozialamt nach monatelanger Auseinandersetzung wöchentlich 15 Stunden Taubblinden-assistenz bewilligt bekommen. „Ich habe ein dreiviertel Jahr gebraucht, um dem Amt zu vermitteln, dass ich diese Assistenz wirklich benötige und dass das nicht jeder machen kann.“ Zusammen mit der Einzelfallhilfe und dem Pflegedienst, der sie wegen ihrer Gesamterkrankung betreut, sei das schon ganz gut. Aber: Es gibt zu wenig AssistentInnen, und wenn sie Pech hat, dann kann an ihrem Wunschtermin keine von denen, mit denen sie zum Teil seit Jahren zusammenarbeitet. „Meist kann ich dann auf eine Veranstaltung, die ich gern besuchen möchte, nicht gehen.“

Nur zwei Handvoll TaubblindenassistentInnen kenne sie in Berlin, nur rund 200 gibt es in ganz Deutschland, und viele von ihnen arbeiten nicht hauptberuflich. Die Qualifizierung ist nicht einheitlich geregelt und es gibt nur wenige Qualifizierungsstellen – etwa in Bayern, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen, in Berlin gibt es keine einzige.

Um die Situation für beide Seiten – die Taubblinden und die Assistenten – zu verbessern, stellen TaubblindenvertreterInnen zwei Forderungen. Zum einen: Für alle mit dem Merkzeichen TBL soll automatisch eine bestimmte Zahl von Assistenzstunden gewährt werden, unabhängig von Einkommen und Vermögen. Zum anderen: eine Professionalisierung der Ausbildung und Anerkennung der Taubblindenassistenz als Beruf. Nur so könne auf Dauer sichergestellt werden, dass genug und ausreichend qualifizierte AssistentInnen zur Verfügung stehen – auch für die, die den Kampf um Assistenz nicht allein kämpfen können. „Wenn man Teilhabe ernst nimmt, dann muss man akzeptieren, dass taubblinde Menschen auf die Hilfe speziell ausgebildeter Dritter angewiesen sind und dass das Geld kostet“, sagt Manfred Scharbach vom Berliner Blinden- und Sehbehindertenverein.

Jobcenter: „Nicht vermittelbar“

Katrin Dinges hat zwar Taubblindenassistenzstunden für ihre Freizeit erkämpft. Für ihre Honorartätigkeiten, ihren Traum von der Selbstständigkeit als Kunstvermittlerin, darf sie die aber nicht verwenden. Für den Job bekommt sie erst dann Assistenz­ bewilligt, wenn sie dem Integrationsamt einen Businessplan vorgelegt hat. „Ich brauche doch aber auch für die Erstellung des Businessplans Assistenz“, sagt Dinges. „Das ist wie eine Mauer, gegen die ich da laufe.“ Neben diesen bürokratischen Hürden zeigt der Kontakt zum Jobcenter aber auch noch eine ganz andere, vielleicht viel größere Barriere für ein selbstbestimmteres Leben taubblinder Menschen.

Für viele Taubblinde ist Assistenz die einzige Möglichkeit, die Wohnung zu verlassen. So wird diese sicherer Ort und Gefängnis zugleich

„Schon im ersten Gespräch hieß es: „Sie sind nicht vermittelbar, nicht konkurrenzfähig“, erzählt Dinges. „Ich musste mich dagegen wehren, in die Grundsicherung oder eine Werkstatt geschickt zu werden. Dass das so abweisend, so demoralisierend ist, das hätte ich nicht erwartet.“ Es sind Erfahrungen, von denen man auch im Deutschen Taubblindenwerk zu berichten weiß. Die meisten Taubblinden könnten nie eine Ausbildung machen, für sie bleibe nur die Arbeit in der Behindertenwerkstatt oder keine Arbeit, berichtet Geschäftsführer Volker Biewald. Wer erst im Laufe seines Lebens taubblind werde, verliere oft seinen Job. Und wer nicht einen Partner oder eine Familie an der Seite hat, müsse nicht selten auch die eigene Wohnung aufgeben und in eine spezielle Wohnstätte ziehen. „Wir stehen bei der Inklusion taubblinder Menschen erst ganz am Anfang“, sagt Biewald, der auf Bundesebene zusammen mit anderen Institutionen für rechtliche Verbesserungen kämpft. Die große Isolation bleibe das Hauptthema, und es brauche noch viele Anstrengungen für mehr Teilhabe.

Katrin Dinges ist vielleicht weniger isoliert als andere Taubblinde, aber inkludiert fühlt auch sie sich nicht. „Ich wünschte, ich könnte überall dabei sein, ohne das Gefühl zu haben, ich störe oder nerve, weil ich die Anderen nicht verstehe“, sagt Dinges. Da würde es manchmal schon reichen, jemand würde sich einfach den Laptop schnappen, um mit ihr ganz direkt zu kommunizieren. In der Künstlergruppe, in der sie sich aktuell bewegt, ist das so. „Das gibt mir das Gefühl: Ich bin willkommen.“

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