Tanztheater am Schauspiel Frankfurt: Die Gewalt wohnt dem Menschen inne
Helle Momente in einer beklemmenden Zeit: Die Choreografin Saar Magal hat in Frankfurt das eindringliche Tanzstück „10 Odd Emotions“ entwickelt.
Als könnte man noch einmal all das Verlorene sichern, legen die Figuren in Saar Magals Stück „10 Odd Emotions“ am Schauspiel Frankfurt den Bühnenraum mit Papieren aus. Offenbar scheint es ihr Bestreben, ein gigantisches Archiv gegen das Vergessen zu errichten. Die Papiere zeugen womöglich von Einzelschicksalen, Opfern der Geschichte.
Während Sätze wie „Sie soll nicht rauskommen, auch wenn sie Schreie hört“ oder „Sag ihr, das war, bevor sie geboren wurde“ herumgeistern und das Assoziationsfeld von Deportationen aufrufen, bricht das augenscheinliche Ordnungsmanöver jäh zusammen. Ein Durcheinander der Stimmen und Bewegungen sowie eine lauter werdende Percussion sprengen den Raum. Schlussendlich fallen von oben weitere Seiten auf die Bühne, wie Schnee, der sich über das kollektive Gedächtnis legt und sogar eine der Darstellerinnen auf der Bühne begräbt.
Wie geht man mit historischer Verantwortung um und wie lässt sich eine Gesellschaft davon abhalten, die Schrecken von einst einfach unter den Alltagsteppich zu kehren? Ohne sich auf eine konkrete Handlung festzulegen, erzählt die in Israel geborene Regisseurin und Choreografin Saar Magal in einer fulminanten, szenischen Kaskade, die Tanz (Dresden Frankfurt Dance Company), Schauspiel und Live-Musik pointiert verbindet, von zeitlosen Ausgrenzungs- und Unterdrückungsmechanismen, deren Bilder schlaglichtartig in die vermeintliche Normalität vordringen.
Die Masse gegen den Einzelnen
Wie fragil allein unsere Gegenwart ausfällt, verdeutlicht bereits der Beginn der sich insbesondere mit Antisemitismus und Rassismus beschäftigenden Crossover-Inszenierung. Als gesichtslose Puppen in Abendgarderobe betreten die Akteurinnen und Akteure die von weißen Wänden gerahmte Bühne, um sich mit roboterartigen Bewegungen zum Ball einzuladen. Da die menschliche Gemeinschaft aber nie eine friedliche Cocktailparty war, kippt die Atmosphäre rasch. Hier und dort kommt es zu Schlägereien in Zeitlupe. Die Gewalt, so die Aussage dieses Prologs, sie wohnt dem Menschen inne – vor allem dort, wo sich die Masse gegen den Einzelnen formiert.
Schauspiel Frankfurt, „10 Odd Emotions“, wieder am 25., 26., 27., 30. Januar // 3., 4., 10., 11., 12., 13., 19., 22., 23., 25.Februar 2023
Oft wird man im Laufe des Abends verschiedener marschartiger Interludien gewahr, bei denen zumeist eine oder einer aus der Gruppe fällt. Mal hebt man diese Verletzten auf, mal erklingen nur harte Anweisungen wie: „Alles wird totgeschossen.“
Obgleich die anspielungsreichen Darbietungen nie an Drastik sparen, erweisen sie sich an keiner Stelle als grobschlächtig. Denn zum einen entwirft Magal einen weiten Assoziationsraum, in dem beispielsweise eine zuvor brutale Menge unversehens den Charakter eines Sklavenchors annimmt, zum anderen gelingt ihr eine überzeugende Stimmungsvariation. Repressiven Mustern, derer man in dynamischen Choreografien gewahr wird, schließen sich nämlich auch zarte Impressionen an.
So etwa im Anschluss an den Blätterregen: Als ließe sich wieder ein Gleichgewicht der unlängst aus den Fugen geratenen Welt herstellen, balancieren die Protagonistinnen und Protagonisten Bücher auf ihren Köpfen. Ein anderer wiederum nimmt die Bücher und begräbt mit ihnen die im vorigen Chaos Verstorbene. Nachdem alle anderen gegangen sein werden, kämpft sie sich wieder ins Dasein vor.
Landschaft aus Eisschollen
Durch geschicktes Licht und die weißen Papiere erinnert das Parkett sodann an eine Landschaft aus Eisschollen. Umfasst von sanften Klavierklängen windet sich die Wiederauferstandene, himmlisch verkörpert von Adaya Berkovich, durch den metaphorisch aufstiebenden Schnee, wobei sie auch immer wieder in sich zusammensinkt.
Traum und Ohnmacht, Sehnsucht und Verzweiflung verdichten sich in einem intensiven Augenblick.
Doch nichts ist in dieser Inszenierung von Dauer. Erst recht nicht die Unschuld. Auf die Revitalisierung des Opfers folgen Männer, die die Papiere mit all den unverwahrten Geschichten wegkehren. Sobald das Vergessen somit besiegelt ist, organisiert sich ein Großteil des Ensembles wieder im Gleichschritt. Peitschenhiebe fallen, wenige Verwundete stolpern mit Krücken.
Lässt sich dieses atemlose Wechselspiel aus Zerstörung und Aufbegehren endlos fortsetzen? Natürlich muss am Ende die Katastrophe eintreten. Fast alle Darstellerinnen und Darsteller stürzen in einen Bühnengraben. An ihrer Stelle fahren zuletzt ungezählte elektrische Plastikbabypuppen empor. Die falsche Normalität, sie wird einfach an die nächste Generation weitergegeben.
Trotz dieses beklemmenden und grotesken Ausgangs feiert dieser Abend letztlich auch das Trotzdem. Er ringt um die Macht und Kraft des Einzelnen, der sich in einem grauenhaften Reigen aus Folter und Wegschauen zu bewähren versucht. Was es dazu braucht, ist Mut, wie ihn Magals formvollendete und kraftvolle Komposition vermittelt. Sie scheut nicht die Auseinandersetzung mit dem Lärm unserer Zeit. Im Gegenteil, erst in seiner Gegenwart werden helle Momente der Erkenntnis und vereinzelt sogar der Schönheit vernehmbar.
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