Tanzperformance in Osnabrück: Die diffuse Hektik des Daseins
Ein Tanz um Leben und Tod in der vermuteten Unendlichkeit: Die Dance Company Osnabrück schlängelt sich in Johanna Nuutinens „Æon“ durch Zeit und Raum.
Ein wuchtiges und denkmalgeschütztes Schulgebäude im Design romanisierender Rundbögen – reichlich Treppen dieser Festung sind zu ersteigen, dann öffnet sich in der ehemaligen Aula eine intime Studiobühne. Choreografin Johanna Nuutinen zog in dieses kleine „emma-theater“, die Studiobühne des Osnabrücker Theaters, mit einem übergroßen Thema ein. „Æon“ lautet der Titel ihrer dreiteiligen Arbeit. Es geht also um das unvorstellbar Größte überhaupt, die Ewigkeit selbst.
Johanna Nuutinen ist an deutschen Theatern noch ein unbeschriebenes Blatt. Sie kommt vom Ballett, hat 15 Jahre an der Finnischen Nationaloper getanzt und leitet seit 2016 in Helsinki eine Compagnie für zeitgenössisches Tanztheater. Jetzt setzt sie die Präzisionsmaschinerie ihrer Bewegungssprache mit der Dance Company Osnabrück in Gang.
Gestartet wird mit „Crea“. In sich und ineinander verknotet, so schlängeln und rollen sich zwei Wesen durch das Quadrat des ausgelegten Tanzbodens. Angefeuert von der perkussiven Dynamik elektronischer Musik entknäuelt sich das Paar in die Senkrechte empor – und gewinnt die Mutenergie, einander loszulassen. Wie eineiige Zwillinge, die sich ins Leben entzweien. Entfalten und befreien. Beide kommen aber mit – annähernd synchron ausgeführtem – Bodenturnen, -tanz, -gymnastik, -akrobatik auch wieder zusammen. Rücken an Rücken stemmen sie sich erneut empor. Proben erste Hüftschwünge und Ballettschritte, erkunden achtsam das Miteinander und erwachen dabei zu sich selbst. Wobei nur die zunehmend pathetisch dröhnende Musik und mangelnde Geschmeidigkeit des Tanzduos stören.
Teil 2: „Vault“. Auf die zarte Klarheit des Geborenwerdens folgt die diffuse Hektik des Daseins. Also werden Nebelmaschinen und eiskalt flackerndes Licht angestellt. Ein glamouröses Quartett exerziert mit feingliedriger Elastizität einen zuckenden Tanz der Arme. So eitel wie verloren drehen sich die Tänzer:innen auch um sich selbst. Sie wirken anmutig in ihrer raumgreifenden Aggressivität. Einem manischen Begehren.
Nuutinen choreografiert, wie sich der gehetzte Zeitgeist auf die gestressten Körper auswirkt. Die allgemeine Verunsicherung erstarrt final mit stolzgerader Pose in einem Scheinwerferkegel. „Vault“ sei wie eine „Kammer der Wünsche und Wünsche und mehr Wünsche“. So erklärt Nuutinen ihr Anliegen, die Landschaft des Unbewussten und der Gefühle in Bewegung zu übersetzen, eine Landschaft, die für sie eine Wunschmaschine ist, wie es uns ja bereits Sigmund Freud und das Sams erklärt haben.
Mühsam aufstehen, hektisch herumirren – schon gilt es in Teil 3, „Ever“, nochmal schnell angesichts des Todes darüber zu räsonieren, ob irgendetwas für immer ist oder alles als begrenzt zu erfahren. Und so schwanken drei Tänzerinnen hin und her. Zeigen Bewegungsfolgen, die nicht einfach enden, sondern sich verwandeln, entwickeln.
Bald aber macht sich Entspannung breit. Ein Ausklingenlassen. Der Abschiedstanz kommt als tröstliche Zeremonie des Loslassens in schöner Eleganz daher. Während ein Herzschlagrhythmus in synthetischem Geigenschmelz ertrinkt, versinken die Tänzerinnen schließlich in einem Meer aus Licht und Nebel. Etwas optisch derart Beeindruckendes war im „emma-theater“ wohl noch nie zu erleben (Lichtdesign: Tuomas Honkanen).
Nicht, dass Nuutinen hier philosophisch das Wesen der Zeit erkundet und metaphysische Möglichkeiten im Denken über Unendlichkeit analysiert hat: Aber sie führt das unzufrieden machende Streben der Menschen während ihrer klitzekleinen Lebensmomente in der vermuteten Ewigkeit vor – mit drei facettenreichen Bewegungskonzepten. Das und die visuelle Kraft wie auch tänzerische Intensität der Choreografie ergeben eine überzeugende Bewerbung, demnächst auf der großen Bühne arbeiten zu dürfen.
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