Tagung des Deutschen Literaturfonds: Widerspruchsvolle Windeln
AutorInnen und KritikerInnen diskutieren in Leipzig über Political Correctness in der Literatur – und über das Verhältnis von Fake und Fiktion.
Was haben die vollgeschissenen Windeln des Sohns von Karl Ove Knausgård in einem Gespräch über die Wahrhaftigkeit von Literatur zu suchen? Nun, eine Menge natürlich.
Denn als die beiden Schriftsteller:innen Georg Klein und Sibylle Lewitscharoff sowie Literaturkritikerin Meike Feßmann am Freitagmorgen im Literaturinstitut Leipzig über erzählerische Freiheit, Fake und Fiktion diskutieren, da sprechen sie auch über das Gegenteil, über allzu wenig Fiktionalisierung in den Boom-Genres Memoire und Autofiktion. Und somit über Karl Ove Knausgård, der über die Hausarbeit am Wickeltisch schreibt.
Lewitscharoff, angriffslustig wie eh und je, hält solch langwierige Alltagsbeschreibungen für elendig öde: „Knausgård zu lesen, das ist wirklich entsetzlich. Ob der Kerl da ein bisschen depressiv war oder schlecht geschlafen hat … langweilig. Der Zwang zum Autobiografischen bekommt für mich etwas fast Perverses.“
Feßmann besteht auf der gesellschaftlichen Bedeutung Knausgårds, denn es sei ja etwas Neues gewesen, als Väter begannen, so über ihre Vaterschaft zu schreiben: „Das heißt eben: Windeln wechseln, immer wieder das Gleiche, eine nervtötende Routine und Arbeit, die mit einer Riesenverantwortung verbunden ist. Knausgård war offenbar für viele Männer identifikatorisch.“
Nah an drängenden Fragen der Literatur der Gegenwart war die gesamte Tagung, zu der der Deutsche Literaturfonds anlässlich seines 40-jährigen Bestehens geladen hatte. So stand neben dem Verhältnis von Fake und Fiktion auch die omnipräsente Debatte über Political Correctness in der Literatur auf der Agenda, dazu später mehr.
Relotius, Menasse, Würger
Mit der Tagung wollte die vom Bund mit 2 Millionen Euro jährlich geförderte Institution, die unter anderem den Großen Preis des Deutschen Literaturfonds (ehemals Kranichsteiner Literaturpreis) und verschiedene Stipendien vergibt, wohl auch jenseits der Insiderkreise in Erscheinung treten – was so halb gelang. Die rund 80 Besucher:innen waren überwiegend Schreibprofis oder angehende Schreibprofis, die am Leipziger Literaturinstitut studieren.
Neben dem Windelwechseln geht es im ersten Teil auch um die Fake-Diskussionen jüngerer Zeit – um Relotius, um Robert Menasse und, ohne genannt zu werden, auch um Takis Würger („Stella“). Damit gelangt die von Thomas Böhm und Bettina Baltschev moderierte Runde zu den moralischen Fragen an die Literatur und den Autor, zu der Frage von erzählerischer Freiheit versus Verantwortung für den Stoff. Auf literarischem Terrain sei die Frage, wie man fingieren darf, vor allem eine thematische, so Lewitscharoff: „Es gibt Themen, wo ich den Fake fragwürdig finde.“ Über den NS etwa könne man nicht mal eben ein „Fiktiönchen machen“.
Aber wie wird überhaupt Wirklichkeit im Subjekt konstruiert, und wie wirklich ist das, was wir als Wirklichkeit bezeichnen? Das müsse man im digitalen Zeitalter völlig anders beantworten als zuvor, meint Feßmann, wenn man zum Beispiel wisse, dass den Fotos, die wir machen, schon Algorithmen vorgeschaltet seien.
Zudem habe die Digitalisierung eine neue Wahrnehmung der Wirklichkeit erzeugt, die jüngere Generation sei „von Vernetzung viel mehr geprägt als von Versenkung“. Georg Klein meint, man müsse zwischen den verschiedenen Ebenen der Wahrnehmung – etwa „die Wirklichkeit meiner Medienrezeption, die Wirklichkeit meines alten Körpers“ – differenzieren.
Mikroaggression und kulturelle Aneignung
Mehr Reibung verspricht die anschließende Diskussion „Political Correctness oder Literatur?“. Einzig: Das Podium ist mit Welt-Literaturkritikerin Mara Delius, Verlegerin Antje Kunstmann, Autorin Tina Uebel und dem Münchener Buchhändler Michael Lemling zu homogen besetzt – sie schildern überwiegend die mitunter absurden Auswüchse, die der Anspruch der Political Correctness für ihre Arbeitsbereiche bedeutet.
So fürchtet Antje Kunstmann als Verlegerin eine ‚Säuberung‘ von Literatur: „Wenn man Widersprüche in der Gesellschaft in der Literatur nicht mehr darstellen will, was ist das denn dann? Wenn man das alles ausschließen will, hat man einen komplett langweiligen Text, der aber pc ist.“
Die Hamburger Autorin und Clubbetreiberin Tina Uebel sieht alte Emanzipationsbestrebungen in der heutigen Identitätspolitik als völlig ins Gegenteil verkehrt, etwa in den Konzepten von Mikroaggression oder kultureller Aneignung. „Dass man nur Repräsentant einer bestimmten Identität ist, ist eigentlich ein Gedanke, gegen den wir mal kämpfen wollten. Also dass jetzt zum Beispiel alle Menschen mit einem gewissen Body-Mass-Index dieselben Ansichten, dieselben Sensibilitäten haben. Eine grauenhafte Vorstellung.“
Weitgehend einig sind sich alle, dass die Debatte zu wenig intellektuell und zu emotional geführt werde, aber auch, dass der Impuls der politischen Korrektheit zunächst mal richtig sei: „Das heißt ja erst mal nichts anderes, als Ausdrucksweisen und Handlungen abzulehnen, die jemanden diskriminieren aufgrund seiner Herkunft, Sexualität, Neigung oder sozialen Schicht“, sagt Delius.
Sensitives Lesen
Doch erst mit den Publikumsbeiträgen wird deutlich, wie verhärtet die Fronten sind. Als es um das Sensitivity Reading geht, eine Form des Prüfens von Texten auf „schädliche oder missverständliche Darstellungen“ (Beschreibung einer Berliner Agentur, die diesen Dienst anbietet), empört sich eine junge Frau über das Gelächter auf dem Podium: „Warum lachen Sie das weg? Nehmen sie das Thema bitte ernst.“
Eine weitere Frau schließt daran an: Bei Personengruppen, denen man nicht angehört, solle man doch die Betroffenen fragen, wie sie bezeichnet und beschrieben werden wollen. Damit hätte die Diskussion richtig beginnen können – nur ist sie da zu Ende.
So bleibt der Eindruck, dass es nicht funktioniert, Themen wie das Gendern in der Sprache, kulturelle Aneignung, fehlende Repräsentanz bestimmter Gruppen in Jurys, auf Podien etc. zusammen mit Verweis auf „die“ Political Correctness zu verhandeln. Beispielsweise liegt zwischen politisch korrekter Sprache im Journalismus und in der Literatur doch ein großer Unterschied, wird in Letzterer doch sehr viel mit uneigentlichem Sprechen gearbeitet.
Da könnte Kritik ansetzen, dass zwischen verschiedenen Sprechhaltungen, zwischen verschiedenen Kontexten kaum noch differenziert wird, wenn bestimmte Sprachregelungen eingefordert werden. Darüber muss man im Gespräch bleiben. Das aber, so viel deutete sich in Leipzig an, ist gar nicht so einfach.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
Tod des Fahrradaktivisten Natenom
Öffentliche Verhandlung vor Gericht entfällt
Wahlprogramm der FDP
Alles lässt sich ändern – außer der Schuldenbremse
Grüne über das Gezerre um Paragraf 218
„Absolut unüblich und respektlos“
Energiewende in Deutschland
Erneuerbare erreichen Rekord-Anteil