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Tagebuch aus der UkraineKurze Geschichte über eine Traktoristin zu Kriegszeiten

Warum unsere Autorin in Odesa​​ nicht mehr von Akkordeonklängen geweckt wird. Und weshalb ihre Nachbarin nun für die Landwirtschaft ausgebildet wird.

Ein Traktor bringt auf einem Feld in Charkiw, Ukraine, Saatgut auf Foto: Vyacheslav Madiyevskyy/imago

S eit einigen Jahren bin ich jeden Morgen durch den Klang eines Akkordeons aufgewacht. Die Musik ist aus dem Zimmer meiner Nachbarin gekommen, die ein Stockwerk höher wohnt. Die dünnen Wände des Wohnblocks vibrierten im Takt der Melodie. Es ist viel angenehmer, durch diese Klänge aufzuwachen als durch ein weiteres Granatfeuer oder durch Explosionen.

Meine Nachbarin heißt Valentina und sie möchte Odesa nicht verlassen. Sie ist 65 Jahre alt, ihre Augen sind blau, und ihr Haar scheint sich zu weigern, grau zu werden. Hellgelb ist es, wie Stroh.

Erst neulich habe ich bemerkt, dass ich den Klang des Akkordeons schon eine Weile nicht mehr gehört hatte. War etwas passiert? Ich habe mir Sorgen gemacht. Doch dann treffe ich Valentina eines Tages zufällig im Innenhof. Sie trägt grüne Handschuhe, ihr Kleidungsstil ist ungewöhnlich hell: ein beiger Mantel mit orangefarbenen Schmetterlingen und helle Schuhe. Dazu trägt Valentina einen großen Rucksack. Wir kommen ins Gespräch.

In unserem Land wurde schwere Arbeit von Frauen lange Zeit als geschlechtsspezifisch unmöglich betrachtet.

Jeden Morgen geht sie zu einem Kurs, in dem sie das Fahren eines Traktors lernt. Bis vor fünf Jahren war Valentina noch Buchhalterin in einem großen Unternehmen, dann ging sie in Rente. Doch der Krieg hat viel verändert. Die meisten der jungen Angestellten ihrer Firma gingen an die Front. Einige starben, andere kämpfen noch. Aber die Felder müssen beackert werden, der Weizen angebaut, die Ernte eingefahren.

Was der Krieg noch so alles mit sich bringt

Meine Nachbarin hat also in fortgeschrittenem Alter beschlossen, wieder zu arbeiten. Aber nicht als Buchhalterin, sondern als Traktorfahrerin, denn es gibt fast niemanden, der einen Traktor fahren kann. Für Menschen wie Valentina gibt es im Süden der Ukraine spezielle Kurse für Frauen, in denen sie für schwere Berufe ausgebildet werden. Es gibt Ausbildungsgänge für internationale Busfahrerinnen, für das Bedienen von Lkws und landwirtschaftlicher Maschinen, geschult wird auch Sicherheitspersonal für große Einkaufszentren. Diese Kurse werden angeboten, weil es an Fachkräften im wehrfähigen Alter mangelt. Viele Rent­ne­r:in­nen in der Ukraine nehmen das Angebot an, wieder zu arbeiten und so neue Dinge zu lernen.

Ich weiß, dass in den westeuropäischen Ländern eine Straßenbahn- oder Busfahrerin nichts ungewöhnliches ist. In unserem Land allerdings wurde dies lange Zeit als geschlechtsspezifisch unmöglich betrachtet. Doch jetzt ist die Energie der Frauen überall zu spüren.

Früher bedeutete „Rentenalter“ bei uns, dass die Menschen nicht mehr gefragt waren. Man schickte sie nach Hause. Und wer sich gut fühlte, gesund war und bereit war, weiter zu arbeiten, dem war es fast unmöglich, einen Arbeitsplatz zu finden.

Es fällt mir schwer vorzustellen, wie meine Nachbarin, die mich früher mit ihrem Akkordeonspiel erfreute, jetzt die Gangschaltung eines Traktors bedient und ein Feld durchpflügt. Ganz allgemein kann ich mir kaum vorstellen, dass Frauen wie sie nun Lkw-Fahrerinnen werden oder riesige Werkzeugmaschinen bedienen. Aber mir ist klar, dass dies unvermeidlich ist. Der Lebensstandard in der Ukraine hat sich durch den seit drei Jahren andauernden Krieg dramatisch verändert. Es gibt immer weniger Männer in der Produktion und der Landwirtschaft. Damit unterliegt alles einem Wandel: unsere Weltanschauung, unsere Werte, unsere Lebensprinzipien – und unsere Vorurteile.

Ich habe Valentina gebeten, sie möge doch gelegentlich mit ihrem Akkordeon spielen. Sie hat es mir versprochen. Allerdings nur sonntags, denn das ist ihr einziger freier Tag.

Tatjana Milimko ist Chefredakteurin des ukrainischen Onlinenachrichtenportals USI.online.

Aus dem Russischen von Tigran Petrosyan. Finanziert wird das Projekt von der taz Panter Stiftung.

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