Tag der deutschen Einheit: „Berlin ist heute dreigeteilt“
35 Jahre nach der Vereinigung ist Berlin das erfolgreichste „ostdeutsche“ Bundesland, sagt Ökonom Martin Gornig. Doch andere Hauptstädte sind viel weiter vorn.

taz: Herr Gornig, seit dem Beitritt der DDR zur BRD am 3. Oktober 1990 sind 35 Jahre vergangen. Kennen Sie ein Ostberliner Produkt, was noch im Supermarkt steht?
Martin Gornig: Club Cola. Und wie heißt dieses Waschmittel? Also nein, ich kenne wohl nicht viele Produkte aus Ostberlin.
Martin Gornig ist Forschungsdirektor für Industriepolitik in der Abteilung Unternehmen und Märkte beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Er forscht und arbeitet dort zu den Themen Industrie, Produktivität und Regionalwirtschaft. Seit 2007 lehrt er als Honorarprofessor auch Stadt- und Regionalökonomie an der Technischen Universität Berlin.
taz: Vielleicht liegt das an der Wucht, mit der die Wende den Osten getroffen hat. Alte Bundesländer prallten auf neue, in Berlin wuchsen zwei Städte zusammen. Gibt es zwei Geschichten der Wiedervereinigung?
Martin Gornig: Es gibt einen großen Unterschied in der Vereinungsgeschichte Berlins und der von Ost und West. Westberlin war etwas ganz Besonderes, im Prinzip ein ökonomisches Kunstprodukt. Das war keine funktionierende kapitalistische Metropole – es hatte eine wirtschaftliche Entwicklung, die maßgeblich durch Fördermittel aus Westdeutschland bestimmt war. Die Deindustrialisierung, die wir in Ostdeutschland erleben mussten, die kam – wenn auch mit zeitlicher Verzögerung – auch auf große Teile in Westberlin zu. Vor der Wende war dort etwa die Tabakwarenindustrie wichtig. Die gibt es quasi nicht mehr. Die ganze Ernährungsindustrie ist sehr stark zusammengeschrumpft. Die ehemals so wichtige Elektroindustrie hat auch viele Sparten abgebaut. Wenn man alles aufzählen würde, was nach der Wende so schloss, wäre die Liste fast genauso lang wie bei Ostberliner Kombinaten.
taz: Das würde ja der klassischen Erzählungen widersprechen: Der Westen hat an der Wende gewonnen, er hat den Osten verhökert.
Martin Gornig: Es gibt Verlierer im Osten wie im Westen, genauso wie es in beiden Teilen die Chancen-Ergreifer gibt, die das irgendwie als Erfolgsstory schreiben. Sicherlich hat es dabei eine Rolle gespielt, aus welcher Generation man kam. Diejenigen, die die zum Zeitpunkt der Wende in ihrem Berufsleben etabliert waren und den Arbeitsplatz verloren, die haben natürlich stärker verloren. Andererseits ist die Gewinn-Verlust-Rechnung auch sehr individuell. Für manche ist der Gewinn die Freiheit, das Ausleben der individuellen Fähigkeiten, für andere die Lohnhöhe.
taz: Ist heute die Integration der ostdeutschen Bundesländer gelungen?
Martin Gornig: In die Sozialversicherungssysteme auf jeden Fall. Wir haben jetzt gerade erreicht, dass die Rentenpunkte im Osten und Westen gleich sind. Ostdeutschland ist heute Teil des gesamten Wirtschaftsraums, spielt also nach den gleichen Regeln und kann durchaus auch erfolgreiche Entwicklungen vorweisen. Wenn man mal die Produktivität als Maßstab für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit nimmt, dann liegen die ostdeutschen Bundesländer, einschließlich Westberlins, bei 90 Prozent vom Bundesdurchschnitt. Zum Vergleich: Als wir 1991 mit den Statistiken gestartet haben, war man bei 50 Prozent.
taz: Was ist mit den Löhnen? Haben die sich angeglichen?
Martin Gornig: Wir haben aktuell Berechnungen zur Produktivität anhand der Wertschöpfung pro Beschäftigten vorgenommen. Und der wesentliche Teil der Wertschöpfung sind die Löhne. Das bedeutet: Die wesentlichen Entwicklungen und Strukturen, die wir für die Produktivität ermittelt haben, findet man auch bei den Löhnen. Viele Regionen in Ostdeutschland haben sich ähnlich strukturierten Regionen in Westdeutschland angeglichen, das gilt für die Löhne wie für die Wertschöpfung insgesamt. Der Faktor „Ost“ ist also heute nicht der entscheidende, wichtiger sind Effizienzvorteile in den größeren Städten oder eben ländliche Strukturprobleme. Und ländliche Regionen haben wir eben in den neuen Bundesländern viel mehr.
taz: Der Vergleich zwischen Ost und West ist also einer zwischen Stadt und Land?
Martin Gornig: Ja, im Prinzip ist es ein Stadt-Land-Gefälle, womit wir zu kämpfen haben! Wenn man ländliche Regionen in Ostdeutschland und Westdeutschland miteinander zu vergleicht, dann gibt's eigentlich gar keine Unterschiede. Sie haben die gleichen ökonomischen Probleme, die wir Regionalökonomen ziemlich klar auch auf die fehlenden Ballungsvorteile zurückführen können: Ländlichen Regionen fehlt etwa die gemeinsame Nutzung einer soliden Infrastruktur, aber auch ein großer Arbeitsmarkt, auf dem Sie als Unternehmen Ihre Angestellten auswählen können.
taz: Und wenn man nur die Produktivität in größeren Städten vergleicht?
Martin Gornig: Wenn es eine Sache gibt, bei dem der Osten bisher nicht aufgeholt hat, dann sind es die erfolgreichen großen Metropolen. In den alten Bundesländern haben zum Beispiel Städte wie München, Stuttgart und Hamburg eine extrem hohe Leistungsfähigkeiten entwickelt. Und von diesem Typus von Stadt, der das überhaupt könnte, gibt es in Ostdeutschland eigentlich nur drei: Leipzig, Dresden und Berlin.
taz: Woran hakt es bei denen?
Martin Gornig: Der Prozess ist einfach noch nicht abgeschlossen. Gegenüber Duisburg und Gelsenkirchen ist der Rückstand von Leipzig und Dresden aber mittlerweile nicht mehr groß. Ostdeutsche Zentren spielen also in der gleichen Liga wie westdeutsche Städte, aber gegenüber den Erfolgreichen ist der Abstand noch da. Man könnte sage, die Aufgabe der Berliner Landesregierung ist jetzt, genauso erfolgreich zu werden wie Hamburg und München.
taz: Wie läuft die Aufholjagd?
Martin Gornig: Die Industrieentwicklung ist nicht der große Renner. Aber Berlin ist das erfolgreichste der neuen Bundesländer, weil hier Standortvorteile wirken. Die Dienstleistungsentwicklung in Berlin ist sehr dynamisch. Die Stadt ist die Gründermetropole. Der Onlinehandel ist hier sehr erfolgreich. Entsprechend ist Berlin auch das einzige neue Bundesland, welches den bundesdeutschen Durchschnitt erreicht.
taz: Aber nicht über ihn hinausgeht …
Martin Gornig: Ja genau. Wenn man international schaut, wo Hauptstädte wie Madrid, Paris oder Rom im nationalen Vergleich liegen, dann sind alle deutlich über dem Landesdurchschnitt. Berlin liegt jetzt gerade mal ein Prozent drüber.
taz: Gibt es innerhalb der Berliner Bezirke noch ein wirtschaftliches Gefälle zwischen Ost und West?
Martin Gornig: Das ist schwer zu sagen, weil seit 20 Jahren Ost- und Westberlin statistisch nicht mehr getrennt erfasst werden. Der Grund ist, dass wir in Berlin mehrere Bezirke haben, die über die ehemalige Teilungslinie hinausgehen. Das sind Friedrichshain-Kreuzberg und Mitte, wo Tiergarten und Wedding aus dem Westen und der alte Ostbezirk Mitte zusammengeführt wurden. Daten unterhalb der Bezirksschwelle werden praktisch aber nicht ausgewiesen. Gleichzeitig gibt es viele Unternehmen in Berlin, die mehrere Standorte in der Stadt haben. Bestimmte Informationen bekommen sie aber nur für das ganze Unternehmen, nicht für jede einzelne Filiale. Den Gewinn eines Unternehmens können sie also nicht im Ost-West-Vergleich messen. Außerdem arbeiten Menschen oft nicht dort, wo sie wohnen. Und wenn sie nicht arbeiten, dann nicht, weil sie gleich nebenan keine Arbeit finden, sondern weil sie überhaupt gar keinen Job in der Stadt finden.
taz: Die Stadt ist also nicht mehr geteilt?
Martin Gornig: Es gibt eine gewisse Dreiteilung: Ost und West lebt in peripheren Lagen weiter. Wir finden die Ostquartiere in Gewerbegebieten wie Hellersdorf. Wir finden Westquartiere in Gewerbegebieten in Spandau, im Märkischen Viertel oder in der Gropiusstadt. Diese Quartiere funktionieren noch ganz ähnlich wie vor der Wende. Andere Standorte wie in Berlin-Mitte oder Kreuzberg haben dagegen wenig mit dem zu tun, was dort vor 40 Jahren war. Das ist der dritte Teil Berlins, der weder West noch Ost, sondern einfach neu ist.
taz: Wenn ich an ein Gewerbegebiet denke, sehe ich einen Baumarkt, Bürohäuser und eine Imbissbude. Woran erkenne ich den Unterschied zwischen Ost und West?
Martin Gornig: Das können Sie nicht sehen. Es geht dabei um wirtschaftliche Netzwerke, die auf lokaler Ebene ehemalige West- oder Ostunternehmen mit zum Beispiel Handwerkern pflegen. Solche Kooperationen sind in ihrem Kreislauf geschlossen, man könnte sie als alt bezeichnen. Andernorts findet man völlig neue Kooperationen, denken Sie an den Technologiepark Adlershof zum Beispiel. Dort sitzen Teile der Humboldt-Universität, aber auch eine ganze Reihe von Unternehmensgründungen, die versuchen, Produktionen aufzubauen. Das ist kein Ost-Netzwerk und es ist kein West-Netzwerk, sondern das ist ein neues Netzwerk.
taz: Bei der Bundestagswahl 2025 nahm die AfD in den Ostbezirken um 7 Prozent auf knapp 20 Prozent zu, in Westberlin kletterte die Partei nur mit einem Plus von knapp 5 Prozent auf 12 Prozent. Sprechen diese Ergebnisse nicht doch für eine Ost-West-Teilung?
Martin Gornig: Ich würde zumindest verneinen, dass diese unterschiedlichen Wahlergebnisse ihre Hauptursache darin haben, dass die wirtschaftliche Entwicklung in den Bezirken anders ist. Fakten findet man dazu kaum. Das gilt übrigens für den ganzen Osten. Welche Gründe darüber hinaus wirken, müssen Wahlforscher herausfinden.
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