Tag der Deutschen Einheit: Migrant*innen an die Macht
Ostdeutsche und Frauen werden 30 Jahre nach der Wende als Menschen wahrgenommen. Wenn das so weitergeht, sind wir MigrantInnen 2080 dran.
A llmählich wird's ernst in Sachen deutsche Einheit. Wahrscheinlich muss Jana Hensel noch ein paarmal bei Markus Lanz vorsprechen, doch die Republik ist dabei, zu verstehen: Im Osten Deutschlands leben Menschen. Mensch mit Bedürfnissen, Träumen und Rentenansprüchen. So viel zum Kuschelkurs.
Ungemütlich wird es in der Bundesrepublik jedoch, wenn der Einheitsfrust als Erklärung für Menschenverachtung missbraucht wird. Nein, Rassismus und völkisches Denken sind keine naturgegebene Reaktion auf die soziale Frage, nur weil hier national und sozial für manche untrennbar verwoben ist.
Ich möchte an diesem unbedeutenden 29. Tag der deutschen Einheit einmal zu Protokoll geben: Liebe Ostbrüder und Ostschwestern, langsam herrscht hier Opferkonkurrenz. Euch geht's da drüben zwar hier und da schlecht, aber die Lösung für Unterrichtsausfälle und schlechte Bahnverbindungen ist kein Politiker, der Passagen aus „Mein Kampf“ fit fürs 21. Jahrhundert macht.
Auch der Klimawandel wird euch nicht deshalb vernichten, weil die Politik etwas gegen ihn tut. Im Gegenteil. Der Wahlwerbespot von Bernd(!) Höcke zeigt, wie Herr Höcke sich seine Wähler*innen vorstellt: Besorgte, die denken, das Benzin würde wegen des Klimawandels so teuer, dass die Thüringer auf die Bahnen angewiesen sind, die im Osten nicht mehr fahren. Wer bei Verstand hält Rassismus für eine Maßnahme bei Infrastrukturproblemen?
Viele sind aufgewacht
Eigentlich wollte ich über das vielfältige Deutschland reden und spreche doch wieder nur über Ossis und Wessis und unsere Rechtsaußendeutschen. Ich mache es wie alle hierzulande, Ignoranz infiziert. „Vielfalt“, das meint im 29 Jahre alten Deutschland, dass Hans-Georg Maaßen in einem Interview zu Wort kommt. Man könnte meinen, Minderheiten hätten das Land überwältigt und Rechtaußendeutsche seien eine schützenswerte 0,7-Prozent-Gruppe in diesem Land.
Vielfalt! Das ist der Kampfbegriff, den sich Minderheiten von Großkonzernen abgeschaut haben: Diversity, das geht in Deutschland. Einwanderung macht Angst, Vielfalt hingegen macht Wohlstand. Die Illusion, nützliche Einwanderer könnten in Deutschland in Ruhe leben, war mit dem NSU allerdings vorbei. Wir wussten: Ihr liebt und schützt uns nicht mal dann, wenn wir nützlich sind. Gerade dann nicht. Weil Empowerment von Minderheiten das Letzte ist, was die Rechtsaußen in diesem Land wollen. Die Opfer des NSU wurden zehn Jahre lang nicht geschützt. Jetzt muss Horst Seehofer, der als Heimatminister antrat, um Deutschland vor Flüchtlingen und Kulturfremden zu bewahren, nach dem Mord an Walter Lübcke die deutsche Heimat vor deutschen Rechtsextremen schützen.
Mit dem Mord an einem deutschen Politiker sind viele aufgewacht. Eine schöne Einheit ist das im Jahr 2019. Wo ist der Einäugige unter all den Blinden?
Der Tag der Deutschen Einheit wird erst dann zum Tag der deutschen Einheit, wenn er mehrere Erzählungen zusammenwebt: die von Ost und West, die der Gastarbeiteranwerbeabkommen und der deutschen Flüchtlinge 1990 und 2015. An der Einheit von Männern und Frauen ist man in Deutschland dran. Die SPD tourt deshalb mit ihrer Karawane aus Doppelspitzenkandidat*innen durch Deutschland.
ist Autorin und Kolumnistin. Bei S. Fischer erschien soeben ihr Buch SHEROES – Neue Held*innen braucht das Land. Sie twittert zum Zeitgeschehen unter @jagodamarinic.
Da sehen wir nun Saskia und Norbert, Klara und Olaf, Petra und Boris, Nina und Karl … Die SPD hat mickrige 150 Jahre gebraucht, um zu verstehen, dass eine Parteispitze so aussehen kann. Sie hat nach 29 Jahren auch verstanden: Ostdeutsche Kandidat*innen gehören dazu. Wenn wir in dem Tempo vorangehen, können wir fest damit rechnen, ab etwa 2080 auch die Giannis, Tasoulas, Mehmets und Ivanas zum Teil der Parteispitzen zählen zu können.
Keine Zeit für Behäbigkeit
Meine Generation und die Jüngeren, wir haben für diese Behäbigkeit keine Zeit. Wir wollen unseresgleichen mitregieren sehen, in erster Reihe mit Ossis und Wessis. Einheit entsteht nur, wo wir trotz aller Unterschiede zusammenfinden. Auf allen Ebenen. Derzeit fehlt die Jugend, es fehlen Ostdeutsche, es fehlen Migranten und andere Minderheiten. Kaum Macht innerhalb der Institutionen.
Die Jugend muss in Sachen Klimawandel den Kraftakt der Massenbewegung von Woche zu Woche vollbringen, um die Babyboomer, die derzeit an der Macht sind, zum Minimalsten zu bewegen. Die funktionierende Demokratie braucht Diversität, doch die derzeitige Politik schrammt zu oft an ihr vorbei.
Eben wurde der Vorstand der Grünen neu gewählt. Es sieht nicht anders aus als in der SPD: Annalena, Robert, Gesine, Michael, … Das in Zeiten, in denen die Grünen „Vielfalt“ ganz oben auf die Agenda setzen. In Zeiten, in denen die SPD ständig betont: „Kein Fußbreit den Rassisten.“ Es müsste im aufgeklärteren Heute heißen: „Kein Fußbreit dem Rassismus.“ Der Rassismus, der in uns allen sitzt. In jedem, dem nicht einmal auffällt, wenn er sich im Anbetracht der Vielfalt unserer Gesellschaft in homogenen Kreisen bewegt. Erst recht in jenen, denen es auffällt, aber die es nicht verändern. Diversität ist nicht Fürsprache, sondern Teilhabe. Auch an Spitzenpositionen.
Es gibt Hoffnung, ich weiß, aber der deutsche Zeitstrahl für Wandel gehört nicht zu den Hoffnungsträgern. Man sehe sich den DFB an, dem es gelingt, homogen alt, weiß und fast durchwegs männlich zu bleiben. Zu wenige Frauen? Na und, Kritik kassieren kostet nichts. Das Fehlen von MigrantInnen fällt dagegen nicht mal auf.
Das wäre ein Projekt für die Ansprache zum 30. Jahrestag der deutschen Einheit: Das „liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger“ in den fünf Sprachen zu sagen, die man in Deutschland am häufigsten spricht. Damit man zumindest dran erinnert wird: Es gibt uns. Es gibt die Alten und die Neuen in diesem Land, die noch kein Deutsch können, es gibt deren Kinder, die Deutsch können und einen deutschen Pass haben und die nicht zum Hassen oder Vergessen da sind. Auch das wäre deutsche Einheit.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Verkauf von E-Autos
Die Antriebswende braucht mehr Schwung
Warnstreiks bei VW
Der Vorstand ist schuld
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Die HTS in Syrien
Vom Islamismus zur führenden Rebellengruppe