Syrisches Lager al-Hol für IS-Gefangene: Von Gott verlassen
57.000 Menschen sitzen im syrischen Camp fest. Kurden bewachen die Tore, im Inneren herrschen Banden und Islamisten. Die Aussichten sind düster.
Viele, die al-Hol mit eigenen Augen gesehen haben, sind unschlüssig: Ist das ein Flüchtlings- oder Internierungslager? Camp oder Knast? Ein Zaun sperrt das Areal ab. Aus einem Areal, in dem die besonders radikalen der 57.000 Insassen aus Syrien, dem Irak und Europa festsitzen, kommt niemand hinein oder heraus. Offiziell jedenfalls nicht. In Wirklichkeit, heißt es, werde alles geschmuggelt, Waren, Waffen, aber auch Menschen.
Jihan Ali, Lagerverwaltung
Jihan Ali von der Lagerverwaltung redet die Lage nicht schön: „Es gibt Zellen vom Islamischen Staat im Lager“, schreibt sie der taz, „der IS (‚Islamische Staat‘, d.Red.) hat schon mehr als 170 Morde verübt.“ Weiterhin seien dort Entführungen und Erpressungen, die einfach krimineller Natur seien, an der Tagesordnung.
Mafiaähliche Strukturen beobachtet auch die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen. „Al-Hol“, heißt es in einem neuen Bericht, „ist zu einem rechtsfreien schwarzen Loch geworden, das Gewalt und Ausbeutung begünstigt, wo kriminelle Aktivitäten straffrei bleiben.“
Al-Hol erinnert daran, dass der „Islamische Staat“ territorial besiegt ist, aber weder die kriminelle Energie noch der religiöse Fanatismus seiner Anhänger und Anhängerinnen aus der Welt sind. Seine heutige Dimension erreichte das Lager, als kurdisch geführte Truppen 2019 die letzten IS-Aufständischen besiegten und die Kämpfer und deren Familien nach al-Hol brachten. Der Zustrom machte es zu dem, was es heute ist: Verbrecherhochburg und IS-Nachwuchsschmiede, nicht vergessen, aber ignoriert von der Welt.
Vor zwei Wochen erst fand man die enthaupteten Leichen zweier ägyptischer Mädchen. Sie sollen elf und 13 Jahre alt gewesen sein. Die Körper lagen im Abwassersystem. Die Tat sorgte für ein paar Schlagzeilen; sie müsse untersucht werden, forderten ein UN-Sprecher. Doch dass der Mord Folgen haben wird, darf bezweifelt werden. „So etwas passiert fast täglich“, kommentiert ein kurdischer Politiker gegenüber der taz.
Kriminelle, sagt Jihan Ali von der Lagerverwaltung, könnten so frei agieren, weil im Lager selbst keine Sicherheitskräfte stationiert seien, es gebe lediglich Patrouillen. „Die Sicherheitskräfte der Selbstverwaltung bewachen die Ein- und Ausgänge, aber sie haben Schwierigkeiten, für Sicherheit innerhalb des Lagers zu sorgen.“ Die Selbstverwaltung, damit meint Ali die Regierung des Autonomiegebiets in Nordostsyrien. Mit ihrem militärischen Arm, dem Milizenbündnis „Demokratische Kräfte Syriens“ (SDF), herrscht sie über fast ein Drittel Syriens. Mehrere Millionen Menschen stehen unter Kontrolle dieser Selbstverwaltung.
Das Assad-Regime lässt die Kurden gewähren, der Türkei dagegen sind vor allem die kurdischen „Volksverteidigungseinheiten“ (YPG), die schlagkräftigste der SDF-Milizen, ein Dorn im Auge. Seit Tagen bombardiert das türkische Militär YPG-Stellungen und droht, auch Bodentruppen zu entsenden. Türkische Drohnen sollen auch Sicherheitskräfte in al-Hol angegriffen haben, heißt es. Familienmitglieder von IS-Kämpfern hätten deshalb fliehen können, seien aber wieder gefasst, behaupten die SDF.
Die Eskalation zeigt die Janusköpfigkeit des Lagers: al-Hol ist ein Faustpfand für die Selbstverwaltung. Je größer die Gefahr, die vom Lager ausgeht, desto wichtiger die Rolle der „Demokratische Kräfte Syriens“ (SDF).
Internationale Anerkennung wird der kurdische Quasi-Staat nicht bekommen, aber dass man kaum an ihm vorbeikommt und auf ihn angewiesen ist, zeigt al-Hol. Jihan Ali von der Lagerverwaltung fordert mehr militärische und logistische Unterstützung, um al-Hol im Griff zu behalten. Zum anderen ist das Lager eine enorme Belastung, finanziell und auch sicherheitspolitisch. Im Januar zeigte ein IS-Aufstand in einem Gefängnis unweit von al-Hol, wie gefährlich die Lage ist. Militante töteten 154 Sicherheitskräfte; 346 Aufständische verloren ihr Leben.
„Wir verschließen die Augen“
„Wir überlassen alles den Kurden und verschließen die Augen vor dieser tickenden Zeitbombe“, sagt die Europaabgeordnete Katrin Langensiepen (Grüne), die im November al-Hol besucht hat. Eine halbe Stunde sei sie im Auto um das Lager gefahren, so groß sei das Areal. „Die Weltgemeinschaft versucht, die Lage auszusitzen, aber Augen zu und durch funktioniert nicht.“
Langensiepen bemängelt nicht nur die Menschenrechtslage; sie sieht die internationale Sicherheit gefährdet. „So schnell es geht, muss das gesamte Lager leergezogen werden. Wir müssen die Leute dort herausbekommen, aber auch versuchen, die Kinder zu resozialisieren“, fordert sie. „Parallel müssen Hilfsorganisationen hinein, sonst übernimmt es der IS komplett. Wir müssen mit Manpower und mit sehr viel Geld rein in dieses Lager.“
Viele Staaten holen mittlerweile zumindest ihre Staatsangehörigen aus al-Hol und anderen Lagern heraus. Deutschland hat 26 Frauen und 77 Kinder repatriiert, womit laut Außenministerin Baerbock „fast alle bekannten Fälle“ abgeschlossen sind. Doch was nach getaner Arbeit klingt, verschleiert die Tatsachen: Baerbocks Aussage bezieht sich zum einen nur auf diejenigen Frauen, die bereit zur Rückkehr bereit sind. Zum anderen spielen deutsche Männer in der Rechnung schlicht keine Rolle. Statt mutmaßlichen IS-Kämpfern in Deutschland den Prozess zu machen und sie im Zweifelsfall mangels Beweisen auch freizulassen, lässt man sie weggesperrt in kurdischen Lagern vegetieren.
Fragt man die Bundesregierung, wie viele Deutsche noch in al-Hol festsitzen, bekommt man erstaunlich unpräzise Zahlen: Etwa 400 der rund 1.150 deutschen Islamist*innen, die nach Syrien oder Irak ausgereist waren, befänden sich wohl noch im Ausland. Rund 80 von ihnen seien in Haft oder Gewahrsam in Syrien, dem Irak oder der Türkei. Wie viele genau in al-Hol festsitzen, darauf gibt es keine Antwort. Es fehlen auch Informationen, was eigentlich mit den vielen Kindern deutscher Eltern ist, die in den letzten zehn Jahren geboren worden sind.
„Genaue Informationen hat tatsächlich keiner“, sagt Abdelkarim Omar. Der Kurde ist Vertreter von Nordostsyrien in der EU, die in Berlin ein kleines Büro im Souterrain eines Wohnhauses betreibt. Im Vorgarten picken Vögel an Maisenknödeln, vor der Tür quillt ein Aschenbecher über. Nur ein kleines Schild mit dem Logo der Selbstverwaltung zeigt, dass dies eine Art Botschaft sein soll.
Die IS-Leute hätten sich ja nicht mit Ausweisen in der Hand ergeben, sagt Omar. Von wie vielen Deutschen in kurdischen Lagern er ausgehe, will er nicht sagen. Nur so viel: Die Mehrheit der Deutschen sei noch da. „Es gibt noch eine hohe Zahl an Deutschen, nicht nur Kinder und Frauen, auch deutsche IS-Kämpfer.“ Omar geht von etwa 2.000 Nicht-Arabern unter den insgesamt 12.000 IS-Kämpfern aus, die sich in der Gewalt der Selbstverwaltung befinden. Hinzu kämen mehr als 7.000 ausländische Frauen und Kinder, die in al-Hol in einem speziellen Trakt interniert sind, dem sogenannten Annex.
Ein Ort der Hoffnungslosigkeit
Der Europa-Abgeordneten Katrin Langensiepen bereitet vor allem dieser Annex Sorgen. Das sei „ein Ort der absoluten Hoffnungslosigkeit, des Drecks, der fehlenden Bildung“, sagt die Parlamentarierin. Aus dem syrischen Teil des Lagers hätten die Kinder ihr noch zugewunken, aus dem Annex zeigten sie ihr den Zeigefinger, den IS-Gruß. Zwei von drei Insassen in al-Hol sind minderjährig, jeder zweite hat noch nicht einmal seinen zwölften Geburtstag gefeiert. „Sie tun mir unendlich leid“, sagt Langensiepen, „aber die sind knallhart drauf und je älter sie werden, desto krasser sind sie.“ Monatlich kämen fünfzig Babys hinzu. „Da werden Teenagerjungs in den Annex geschleust und dann hat auch ein 13- oder 14-Jähriger mal drei Frauen und zeugt Kinder.“ In al-Hol, so ist sie überzeugt, werde die nächste Terrorgeneration hochgezüchtet.
Von der „nächsten Generation des IS“ spricht auch Omar. „25.000 Kinder in al-Hol werden gemäß der IS-Ideologie erzogen“, sagt er und betont: „Al-Hol ist ein internationales Problem.“ Die Selbstverwaltung werde allein gelassen. Mehr Unterstützung fordert auch er und erzählt, dass besonders gefährliche Jungs ihren Müttern mit zwölf oder 13 Jahren weggenommen und in ein Deradikalisierungszentrum geschickt würden. Dieses eine Zentrum reiche aber nicht aus, es bräuchte fünfzehn bis zwanzig davon.
„Wir brauchen einen wirklichen politischen Plan“, sagt Langensiepen. Sie spricht sich für deutlich mehr Unterstützung aus, wobei Europa auch vor einer „De-facto-Anerkennung“ der Selbstverwaltung nicht zurückschrecken dürfe. Für al-Hol stellt sie eine Dezentralisierung des Lagers zur Debatte.
Einen Masterplan für die Zukunft hat jedoch niemand. Ärzte ohne Grenzen warnt vor einem reinen Management des Lagers im Sinne der Terrorismusbekämpfung. Das würde „Tausende von Zivilisten in einem Kreislauf aus unbefristeter Inhaftierung, Gefahr und Unsicherheit gefangenhalten, der sie ihrer grundlegenden Menschenrechte beraubt.“ Ein Szenario, das wahrscheinlich ist. Und brandgefährlich.
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