Syrische Geflüchtete in der Türkei: Unter der Oberfläche gärt es
Ein Viertel der Einwohner von Gaziantep sind syrische Geflüchtete. Präsident Erdoğan erhöht den Druck auf sie, zurückzukehren.
„Schulschluss“, meint der Besitzer eines kleinen Kramladens lakonisch, „die syrischen Kinder gehen nach Hause.“ Folgt man ihnen in das Gassengewirr, wird schnell klar, dass die syrischen Flüchtlinge in der Gegend klar die Mehrheit stellen.
Die Läden werben in arabischer Schrift, Hinweise auf Aleppo gibt es an jeder Ecke. Reden wollen die Leute hier nicht so gerne, Zurückhaltung gehört zum Überlebensprinzip. „Ja, es gehe ihnen gut“, ist alles was zwei Männer vor einem Laden, der arabische Lebensmittel importiert, von sich geben wollen.
Auf die Frage, ob sie Angst davor haben, zurückgeschickt zu werden, zucken die beiden nur mit den Schultern. Zurück – aber wohin denn, scheint diese Geste zu bedeuten.
Eine negative Atmosphäre hängt über der Stadt
Mehmet Polat, ein Anwalt der sich für Geflüchtete engagiert, erstaunt die Zurückhaltung nicht. „Es herrscht in der Stadt schon länger eine negative Atmosphäre gegenüber den Flüchtlingen“, sagt er.
Viele der rund 500.000 syrischen Geflüchteten, die in Gaziantep leben, haben keinen Job, höchstens mal eine Beschäftigung für ein, zwei Tage. Weil ihre Wohnungen oft eng und dunkel sind, verbringen sie ihre Tage in den Parks der Stadt. Das stört die Leute. „Unter der Oberfläche kocht es“, so Polat.
In Gaziantep hatten es Massenschlägereien zwischen Syrern und Türken gegeben, in Urfa wurden mehrere syrische Läden abgebrannt und auch in Istanbul und Ankara hat es in den letzten zwei Jahren Zwischenfälle gegeben.
Syrische Geflüchtete werden instrumentalisiert
Viele Politiker versuchen deshalb im derzeitigen Vorwahlkampf zu den Präsidentschaftswahlen mit Sprüchen gegen die Geflüchteten ihre Popularität zu steigern. Erst vor wenigen Monaten hat sich eine neue, rechtsradikale Partei „Zafer“ (Sieg) gegründet. Sie sammelt im Zentrum von Gaziantep im großen Stil Unterschriften für die Durchsetzung einer Zwangsrückkehr der Syrer.
Selbst seriöse Oppositionsparteien, wie die nationaldemokratische IYI-Partei stoßen in dieses Horn. Weil er weiß, dass die Flüchtlingsfrage eine Schwachstelle von Präsident Tayyip Erdoğan ist, fordert auch der Vorsitzende der sozialdemokratisch-kemalistischen Partei CHP, Kemal Kılıçdaroğlu, ein Rückkehrprogramm für die rund vier Millionen Syrer in der Türkei. Nach einem möglichen Wahlsieg wolle er dazu Vereinbarungen mit dem syrischen Diktator Baschar al-Assad treffen.
Erdoğan hat deshalb vor wenigen Wochen angekündigt, er wolle in den von der Türkei kontrollierten Gebieten in Nordsyrien Häuser für Geflüchtete bauen – ein Anstoß zur freiwilligen Rückkehr.
Die meisten leben seit Jahren hier
„Das ist reine Propaganda und hat mit der Realität nichts zu tun, meint Kemal Vural, ein Migrationsexperte und Gründer des Gazianteper Vereins Kırkayak, der Geflüchtete unterstützt. Die meisten von ihnen seien bereits seit knapp zehn Jahren in der Türkei, sagt er. Sie kämen in der Regel aus Aleppo, das nah hinter der Grenze liegt.
„Die Leute haben sich hier ein neues Leben aufgebaut. Die Kinder gehen hier zur Schule, viele von ihnen erinnern sich gar nicht mehr an Aleppo“. Irgendwie verdienten die meisten etwas Geld und die mittelständische Industrie der Region brauche sie als billige Arbeitskräfte. „Freiwillig geht niemand mehr nach Syrien zurück.“
„Deshalb“, so Vural, „versucht die Regierung seit Anfang dieses Jahres den Druck zu erhöhen“. Polizisten seien landesweit ausgeschwärmt, um die Meldeadressen syrischer Flüchtlinge abzuklappern.
Die sind eigentlich verpflichtet, an den Orten zu leben, wo sie sich registriert haben – meist grenznahe Städte wie Gaziantep, Urfa oder Kilis. Weil es dort aber – auch aufgrund des Zuzugs – keine Arbeit mehr gibt, sind viele weitergezogen nach Ankara, Istanbul oder Izmir. Dort sind sie aber nicht registriert. Von geschätzt einer Million syrischer Flüchtlinge in Istanbul sollen sich etwa 500.000 dort illegal aufhalten.
Erdoğan drängt Geflüchtete in Pufferzone
Man versuche die Geflüchteten zur Rückkehr an den Ort ihrer Registrierung zu zwingen, so Vural. Aber: „Die Stadtverwaltung hat für 20 Bezirke eine Zuzugssperre für Syrer erlassen, angeblich um eine Gettobildung zu verhindern. In den übrigen, reicheren Stadtteilen von Gaziantep können sie sich aber keine Wohnung leisten.“
Erdoğan, meint Polat, verfolge ein doppeltes Ziel. „Er will einen Teil der Syrer zur Rückkehr drängen, die er dann auf der syrischen Seite der Grenze ansiedeln will, um so eine Pufferzone zur kurdischen Region zu schaffen.“ Eine Deportations- und Umsiedlungspolitik, wie sie immer wieder betrieben wird – die den Betroffenen immer wieder Leid bereitet.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
SPD-Linker Sebastian Roloff
„Die Debatte über die Kanzlerkandidatur kommt zur Unzeit“
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus