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Syrische Geflüchtete in der TürkeiDie Angst vor der Rückkehr

Mustafa wurde nach Syrien abgeschoben und kam wieder zurück nach Istanbul. Weil er sich nicht mehr sicher fühlt, will er nun nach Europa flüchten.

Der Syrer Mustafa fühlt sich in der Türkei nicht mehr sicher, er will jetzt nach Europa Foto: privat

Mustafa* dreht Zigaretten, eine nach der anderen. Der 30-Jährige verdient seinen Lebensunterhalt damit. Er wohnt in einem abgelegenen Viertel im Istanbuler Bezirk Esenyurt. Die Wohnung teilt er sich mit seiner Frau, seinen zwei Kindern, dem Bruder und der Mutter seiner Frau. Bis vor ein paar Monaten konnte Mustafa noch in Bäckereien und auf Baustellen arbeiten. Jetzt traut er sich nicht mehr, das Haus zu verlassen. Weil er vor ein paar Monaten nach fünf Jahren in der Türkei plötzlich nach Syrien abgeschoben wurde.

Vor knapp einem Monat gelang es ihm, nach Istanbul zurückzukehren. Aus Angst, wieder festgenommen zu werden, kann er nicht arbeiten gehen. Solange es keinen dringenden Grund gibt, bleibt er Zuhause. Er sagt, unter diesen Bedingungen sei die beste Arbeit, die er erledigen könne: Zigaretten für einen Tabakladen drehen.

In Esenyurt, Istanbuls größtem Verwaltungsbezirk, leben rund 30.000 Syrer*innen. Hier sind die Mieten niedrig und es gibt Arbeit. Doch ein Beschluss des Gouverneurs von Istanbul vom 12. Juli setzte allen nicht offiziell registrierten Migrant*innen eine Frist, die Stadt zu verlassen. Alle, die bis zum 30. Oktober nicht auf eigene Initiative gegangen sind, sollen demnach zu ihren Meldeorten oder nach Syrien abgeschoben werden.

Seit Juli gibt es Razzien gegen Migrant*innen. Nicht nur gegen solche mit fehlender Registrierung. Die Istanbuler Sicherheitsbehörden gehen auch gegen solche vor, die „die öffentliche Ordnung und Sicherheit stören“. Laut einer Erklärung des Istanbuler Gouverneurs vom 18. Oktober wurden bisher 36.000 Personen den verantwortlichen Migrationsbehörden übergeben. Diese Migrant*innen wurden in die Städte geschickt, in denen sie gemeldet sind. Oder noch schlimmer: Sie wurden nach Syrien abgeschoben.

Freiwillige oder erzwungene Rückkehr?

In einem am 25. Oktober veröffentlichten Bericht über illegale Abschiebungen syrischer Geflüchteter in der Türkei geht Amnesty International auf 20 Abschiebungen ein. Laut dem Bericht wurden Syrer*innen gezwungen, ein Dokument zu unterschreiben, mit dem sie bestätigen, dass sie freiwillig zurückkehren. Wer die Unterschrift verweigere, erfahre physische Gewalt, heißt es. Der türkische Innenminister Süleyman Soylu behauptete dagegen im September, dass niemand gegen seinen Willen abgeschoben werde und 354.000 Personen freiwillig nach Syrien zurückgekehrt seien.

Mustafa gehört zu rund 546.000 Syrer*innen, die sich in Istanbul registrieren lassen konnten. Aber er wurde trotzdem abgeschoben, weil er laut den Behörden unter die zweite Kategorie der betroffenen Geflüchteten fällt: Die Polizei hat ihn mit einem Motorrad angehalten, das er zwar gekauft hatte, das sich bei der Kontrolle aber als geklaut herausgestellt hat. Obwohl er der Polizei die Personalien des Verkäufers mitgeteilt habe, habe diese keine Ermittlungen eingeleitet, erzählt er. Anfangs habe er geglaubt, dass sich die Sache aufklären und er wieder freigelassen würde. Selbst als er ein paar Tage später ins Binkılıç-Rückführungszentrum gebracht wurde, dachte er noch nicht, dass man ihn abschieben würde. Doch es kam anders.

Mustafa erinnert sich daran, wie er im Rückführungszentrum seine Familie anrief. Erst dort habe er von den Razzien gegen Syrer*innen erfahren. Man habe ihm dann das Dokument für „freiwillige Rückkehr“ vorgelegt. „Zuerst wollte ich nicht unterschreiben, aber ich sah, dass man mit denen, die sich weigerten, gewalttätig umging. Aus Angst habe ich unterschrieben“, sagt er. Eine Woche später saß er in einem Bus nach Syrien. Nachdem er durch den Grenzübergang Bab al-Hawa nach Syrien abgeschoben worden war, rief er seinen Cousin in der syrischen Grenzstadt Azaz an.

Schon seit der türkischen Militäroffensive „Schutzschild Euphrat“ im Jahr 2016 steht Azaz, eine Stadt im Nordwesten Syriens, unter der Kontrolle der Türkei und den mit ihr verbündeten jihadistischen Milizen der „Nationalen Syrischen Armee“ (NSA). Die Bevölkerung von Azaz ist während das Krieges von 31.000 auf 300.000 Einwohner gewachsen. Das schreibt zumindest das islamistische Hilfswerk IHH in einem Bericht aus dem Jahr 2016. Wie viele Familien in den letzten drei Jahren in die syrische Stadt gezogen sind, hat niemand erfasst. Unbestritten ist, dass viele Menschen hierher migrieren.

Eine syrische Stadt wird türkisch

In Azaz gibt es eine Filiale der türkischen Post und eine türkische Moschee. Das Gouverneursamt der türkischen Provinz Kilis, die unmittelbar nördlich von der Grenze liegt, hat mehrere Straßen erneuert. Dafür bekamen die neuen Straßen türkische Namen. Die unfreiwillige Fahrt nach Azaz war für Mustafa seine erste Reise nach Syrien, seit er in der Türkei lebt. Er habe sein Land nicht wiedererkannt und sich als Ausländer gefühlt, erzählt er.

Seine Familie heuerte in Istanbul einen Anwalt an, um Mustafa zurückzuholen. Ohne Erfolg. Mustafa wandte sich an eine syrische NGO. Auch die konnte nicht helfen. Er begab sich auf Arbeitssuche, weil er mittlerweile nicht mehr an eine Rückkehr nach Istanbul glaubte. „Es gibt Arbeit auf Baustellen, aber für 16 Stunden täglich bekommt man 20 türkische Lira. Von diesem Geld kann man nicht leben.“ Mustafa wollte aber auch nicht in eine Stadt ziehen, die unter der Kontrolle des syrischen Regimes steht. „Ich war Soldat in der Armee des Regimes und bin desertiert. Das ist eine der schwersten Straftaten.“

Der Verein „Respekt und Geschwisterlichkeit“ veröffentlichte einen Bericht über Syrer*innen, die in Gebiete zurückgekehrt sind, die von Assad kontrolliert werden. 63 Prozent der Rückkehrer*innen möchten demnach wegen schlechter Lebensbedingungen und Sicherheitsbedenken wieder flüchten. Mustafa erzählt, dass er sogar darüber nachgedacht habe, sich wie sein Cousin der Nationalen Syrischen Armee anzuschließen, um als Söldner Geld zu verdienen. Nachdem er 2012 die Armee des Assad-Regimes verlassen habe, sei er eine Zeitlang in der Freien Syrischen Armee gewesen. Er holt sein Handy raus und zeigt ein Foto, auf dem er in Militäruniform und mit einem Verband am Kopf zu sehen ist. Er erzählt, dass er an mehreren Stellen verwundet worden sei.

Aber auch dort habe es ihn nicht lange gehalten: „Alles war nur ein politisches Spiel. Ich wollte kein Teil davon sein.“ Mustafa, der wegen der tagtäglich zunehmenden Gewalt 2014 in die Türkei flüchten musste, stand nochmals vor dem gleichen Dilemma: in Syrien bleiben und sich der NSA anschließen oder in die Türkei flüchten. Nach zweieinhalb Monaten in Azaz zahlte er einem Schmuggler 550 Dollar und kam wieder in die Türkei. Über viele andere, die in Azaz gelandet sind, sagt Mustafa: „Alle, die sehen, dass die dortigen Lebens- und Arbeitsbedingungen schlimmer als in der Türkei sind, suchen nach Rückkehrmöglichkeiten.“

Die Erwartung, dass die Syrer*innen bald weg sind

Mit der türkischen Militäroffensive „Friedensquelle“, die am 9. Oktober begann und nach einer Einigung der Türkei mit Russland vor ein paar Tagen beendet wurde, verschlechterte sich die Lage für syrische Geflüchtete noch weiter. Medienberichte über die Umsiedlung von einer Million Syrer*innen in die Sicherheitszone, die östlich des Euphrats 32 Kilometer tief in das syrische Staatsgebiet hineinragen soll, weckten in großen Teilen der türkischen Bevölkerung die Erwartung, dass bald alle Syrer*innen die Türkei verlassen würden.

Murat Kurum, Minister für Umwelt und Stadtplanung, behauptete in einer Erklärung am 22. September gegenüber der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu, man plane 140 Siedlungen für je 5.000 Einwohner*innen und zehn neue Kreisstädte für 30.000 Einwohner*innen. Das Projekt erscheint nach der Einigung mit Russland zwar politisch kaum umsetzbar. Aber die Menschen aus Syrien, die in Angst leben, aus der Türkei abgeschoben zu werden, müssen seine Realisierung fürchten.

Für Mustafa wäre alles andere besser als das Leben, das er derzeit führt. Er sagt, dass er durchaus freiwillig in eine solche Sicherheitszone in Nordsyrien ziehen würde. Auch wenn noch vieles unklar ist. „Werden die Leute dort in Mietwohnungen leben, werden sie Arbeit haben?“, fragt Mustafa.

Didem Danış, Soziologiedozentin an der Galatasaray Universität und Gründungsmitglied des Vereins für Migrationsforschung, erklärt dass die Errichtung einer Sicherheitszone in Syrien völkerrechtswidrig sei, aber sie hält sie trotzdem für möglich. Laut Danış kann die freiwillige Rückkehr aber erst mit zunehmender Sicherheit und dem Wiederaufbau des Wirtschafts- und Gesellschaftslebens zu einer attraktiven Option für Geflüchtete werden.

Keine Pull-Faktoren

Weil die aktuelle Situation in dem Gebiet noch weit davon entfernt ist, wird es stattdessen wohl Zwang geben: „Wenn man als Regierung keine Pull-Faktoren in Syrien schaffen kann, wird man es vermutlich mit Push-Faktoren versuchen. Und das bedeutet, dass den Syrer*innen in der Türkei der Aufenthalt in der Türkei möglichst schwer gemacht wird“, sagt Danış. Sie geht davon aus, dass Syrer*innen, die nicht an ihrem Meldeort leben, ab dem 30. Oktober mit Repressalien rechnen müssen.

Mustafa hat ohnehin einen neuen Plan: Er will nach Europa. Bisher hatte er noch nicht daran gedacht. Er hatte nicht erwartet, dass der Krieg so lange dauern würde. Heute hat er keine Hoffnung mehr. „Mein Ziel ist Deutschland. Ich habe mit Schmugglern gesprochen. Für meine ganze Familie muss ich ungefähr 4.000 Dollar zusammensparen“, sagt er. Mustafa weiß, wie gefährlich es ist, auf illegalem Wege nach Europa zu gelangen. Aber er fühlt sich auch in der Türkei gefährdet. „Niemand will uns hier haben“, sagt er. „Ich habe hier überhaupt keine Rechte. Es fühlt sich so an, als könnten sie jeden Moment kommen und mich mitnehmen.“

*Der Name wurde von der Redaktion geändert

Aus dem Türkischen von Levent Konca

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