Syrische Flüchtlinge in Deutschland: Das Warten auf die Kinder
Syrische Flüchtlinge sollen ihre Familien auf sicherem Weg nach Deutschland holen dürfen. In der Praxis sind die Hürden hoch und die Folgen dramatisch.
Mahmoud Al Muhammad kam im Januar 2015 nach Deutschland. Fünf Monate später wurde er als Flüchtling anerkannt. Sein Haaransatz ist zurückgegangen, die Schläfen sind grau, Falten rahmen die matten braunen Augen ein. Dabei ist er erst 34 Jahre alt.
Als Mahmoud Al Muhammad in der Türkei in ein wackeliges Boot kletterte, dachte er an seine Familie. Als er von Griechenland nach Deutschland lief, zu Fuß durch Mazedonien, Serbien, Ungarn und Österreich, dachte er an seine sechs Jungs, der älteste neun Jahre alt. An seine Tochter Sidra. An seine Frau Amira und das achte Kind in ihrem Bauch, wieder ein Junge. Daran, dass seine Familie in Aleppo jeden Moment von einer Bombe getroffen werden könnte. Zwei Jahre ist Al Muhammads Flucht nun her. Seinen jüngsten Sohn hat er bis heute nicht gesehen.
„Alles, was ich wollte, war, meine Familie zu retten. Ich brauche kein Geld, keine große Wohnung, nur Sicherheit für meine Kinder“, sagt er. Als anerkannter Flüchtling hat er Anspruch darauf, seine Familie nach Deutschland zu holen, die heute in einem Flüchtlingslager in Idlib, im Nordwesten Syriens, lebt und auf einen Termin bei der deutschen Botschaft wartet.
Balkon zum Schalter umgebaut
Die Gesetze zum Familiennachzug sollen verhindern, dass Kinder mit ihren Eltern auf gefährlichen Routen flüchten. Über Visa sollen sie legal in Deutschland einreisen können. Rund 40.000 syrische Angehörige kamen auf diese Weise im vergangenen Jahr nach Deutschland.
„Es ist nicht ungewöhnlich, dass der Familiennachzug sehr lange dauert“, sagt Anna Schmitt. Sie berät Al Muhammad kostenlos bei der Sprechstunde des Beratungs- und Betreuungszentrums (BBZ) in Berlin. In Syrien kann kein Visum mehr beantragt werden, die deutsche Vertretung in Damaskus ist seit 2012 geschlossen. Viele fahren dazu ins Nachbarland Libanon.
„Es besteht weiter eine sehr große Nachfrage nach Terminen für die Visumsbeantragung“, schreibt die Botschaft in Beirut auf ihrer Webseite. Wer um einen Termin bitte, werde erst zehn bis zwölf Monate später eine Antwort erhalten. „Die Botschaft bekommt monatlich 15.000 Mails“, sagt ein Sprecher des Auswärtigen Amtes. Er beschreibt, wie ein Balkon zum Schalter umgebaut wurde und wie das Personal im Schichtbetrieb an sieben Tagen pro Woche Anträge abarbeitet. Das Auswärtige Amt habe dazu rund 100 Mitarbeiter*innen zusätzlich eingestellt. Die Botschaft stehe „unter einer außerordentlichen Belastung“ wegen des „gigantischen Ausmaßes der humanitären Krise“.
Verschleppung beim Familiennachzug politisch gewollt?
Aiman Al Farwan wollte eigentlich nur kurz bei Anna Schmitt im Hilfsverein vorbeikommen und fragen, was die Botschaft zu seinem Attest gesagt hat, das er vor einigen Wochen abgeschickt hatte. Als er hört, dass noch keine Antwort da ist, fängt er an zu schreien. „Meine Familie wird gerade totgebombt“, brüllt er, „und das ist hier allen egal!“
Nachdem er sich wieder beruhigt hat, zeigt Al Farwan ein Video auf seinem Handy. Ein kleines Mädchen wälzt sich in einem Klinikbett und wimmert. Ihr T-Shirt ist hochgerutscht. Darunter schaut ein Teil des Mullverbands hervor, der den ganzen Oberkörper bedeckt. „Das ist meine Tochter Sara“, sagt Al Farwan. Er erzählt, dass sie fünf Jahre alt ist. Dass sie eine Splitterverletzung hat. Dass sie in einem Keller operiert wurde, weil in seiner Heimatstadt Daraa im Osten Syriens kein einziges Krankenhaus mehr steht. Dass die Schmerzmittel knapp sind.
Während Al Farwan spricht, zieht er mit der Hand immer wieder eine senkrechte Linie von seinem Brustkorb zum Hosenbund. Als er davon erfuhr, erlitt er einen Nervenzusammenbruch, sagt er. Er zeigt den Arztbrief der Berliner Charité: „Bei Erstvorstellung war der Patient versteinert, unterbrochen von heftigen Weinkrämpfen“. Er nimmt jetzt Medikamente und ist in Therapie.
„Das Auswärtige Amt und das Innenministerium müssen auf den Vorwurf reagieren, dass diese Verschleppung beim Familiennachzug politisch gewollt ist“, sagt Günter Burkhardt. Er ist Geschäftsführer von ProAsyl und fordert schnellere Verfahren. Das Geld sei da, andere Behörden würden schließlich auch aufgestockt.
„Papa, wann kommst du uns holen?“
Mustafa Al Hababi kam zur selben Zeit in Deutschland an wie Aiman Al Farwan, im Juli 2015. Doch Al Hababis Antrag wurde erst später bearbeitet. Er bekam deshalb nur den subsidiären Schutzstatus zuerkannt, seit dem Sommer 2016 ist das für syrische Flüchtlinge zur Regel geworden. Wer nicht persönlich verfolgt, sondern vor Krieg oder Bürgerkrieg geflohen ist, bekommt diese Aufenthaltserlaubnis, die nur ein Jahr lang gilt. „Also danke. Aber ich fühle mich unwillkommen“, sagt Al Hababi. Der schmächtige Mann presst die Lippen zusammen und hebt in einer Geste der Machtlosigkeit seine Hände. Am linken Ringfinger trägt er einen silbernen Ehering.
Im März 2016 hat die Bundesregierung entschieden, den Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte für zwei Jahre ganz auszusetzen. Das heißt: Betroffene wie Al Hababi dürfen ihre Angehörigen nicht mehr nachholen. Erst ab März 2018 dürfen sie Anträge stellen und Termine ausmachen, um dann monatelang auf eine Entscheidung zu warten.
Auch Amira Al Muhammad wird in Idlib noch einige Monate auf ihren Termin in Beirut warten. Es hat lange gedauert, aber die zuständige Berliner Ausländerbehörde Labo, das Landesamt für Bürger und Ordnungsangelegenheiten, hat nun zugestimmt, dass die Familie prinzipiell nachkommen darf. Mahmoud Al Muhammad ist froh, wenn er nicht mehr zu der Behörde muss, sagt er. Die Sachbearbeiter*innen hätten ihm immer das Gefühl gegeben, etwas falsch gemacht zu haben. Als er zuletzt ohne Termin dort war, um das Attest seiner Frau abzugeben, habe ihn der Sicherheitsdienst gar nicht ins Gebäude gelassen. Anna Schmitt sagt, das sei „nicht unüblich“. Die für das Amt zuständige Senatsverwaltung für Inneres und Sport bestreitet das, sie weist auch zurück, aus Personalmangel überfordert zu sein.
Wenn Mahmoud Al Muhammad mit seiner Familie in Idlib telefoniert, fragen die Kinder: „Papa, wann kommst du uns holen?“. Auf die Frage, was er ihnen dann antwortet, räuspert er sich, blickt eine Weile auf seine Hände. Dann fängt er an zu weinen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Künstler Mike Spike Froidl über Punk
„Das Ziellose, das ist doch Punk“
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour