Syriens Nachbarländer nach Assads Sturz: Sorge, Gebete und Fehleinschätzungen
Jordanien schließt seine Grenze, Israel ist überrascht und Erdoğan darf träumen. Wie der Sieg der HTS-Miliz in den Nachbarländern aufgenommen wird.
Jubel und Sorge in Jordanien
Jordaniens Innenminister Mazen al-Faraya nannte Sicherheitsbedenken als Grund. Die Angst war offenbar groß, dass Instabilität oder gar Gewalt auf die andere Seite der Grenze überquelle. Videos zeigten Reihen von gepanzerten und bewaffneten Fahrzeugen, die sich in Richtung nördlicher Grenze bewegten. Darauf waren Soldaten in der jordanischen roten Kufiyah zu sehen. „Jordanien schloss die Grenze aus Angst vor Chaos und Instabilität, was verständlich ist, bis es klar ist, wer die Macht in Syrien übernimmt“, erklärt der jordanische Journalist Mohammed al-Ersan auf Nachfrage der taz. „Allerdings kennt Jordanien diese Fraktionen gut, aus der grenznahen Stadt Dara’a.“
Der jordanische König Abdullah II. hatte zuvor bei einem Nato-Treffen in Brüssel für die „Souveränität und territoriale Integrität Syriens“ plädiert. „Jordanien will jedes Risiko von Chaos an der Grenze vermeiden“, sagt Amer al-Sabaileh, Experte für Geopolitik. „Die Beziehungen zu Assad waren nicht gut, aber auch nicht komplett zerrissen.“ Es gab Annäherungsversuche für eventuelle Sicherheitskooperationen. Nun herrsche Sorge darüber, welche Gruppen im Süden die Macht übernehmen und wie sie sich zu Jordanien positionieren. Daher wird die Lage derzeit vorsichtig beobachtet. Zwei Szenarien gebe es für die Zukunft, sagt Journalist al-Ersan: einerseits Potenzial für Instabilität an der Grenze und eine Zunahme an extremistischen Gruppen, was „nicht unmöglich, aber auch nicht wahrscheinlich“ sei.
Andererseits eine Koordination mit Jordanien, um den Drogenschmuggel zu stoppen, der mutmaßlich durch Iran-unterstützte Milizen und Mitglieder des Regimes Assads betrieben wurde. Und die Möglichkeit einer sicheren Rückkehr der über 600.000 syrischen Geflüchteten in die Heimat. Diese waren in den vergangenen Jahren immer wieder Streitpunkte zwischen Assad und Amman gewesen.
Am Samstag haben etwa Mitglieder der Freien Syrischen Armee die jahrelange Belagerung durch die syrische Armee des abgelegenen Flüchtlingslagers Rukban an der jordanischen Grenze in Syrien gebrochen. Unter den Geflüchteten selbst herrscht jedoch immer noch eine gewisse Angst oder eher Misstrauen, sich öffentlich dazu zu äußern. Ein junger Mann, der anonym bleiben möchte, zeigt sich jedoch optimistisch. „Ich sehe Syriens Zukunft glänzend an, weil das Assad-Regime kollabiert ist und die Menschen in Syrien jetzt selbst eine demokratische Gesellschaft regieren können.“ Sollte ein friedlicher Regierungswechsel stattfinden, möchte er gern zurück in die Heimat.
Die Sorge bleibe aber, dass Assads Regime von einer radikalen Regierung ersetzt wird, so al-Bakfani. „Die Zukunft Syriens wird von zwei Elementen abhängen: der Sensibilisierung der syrischen Bevölkerung und den Abkommen mit der internationalen Gemeinschaft.“ Man brauche eine „Übergangsjustiz“ und ein föderales System, um Racheakte zu vermeiden. Glücklich zeigt sich eine syrische Geflüchtete aus der nördlichen Stadt Irbid: „Das Gefühl ist unbeschreiblich. Heute können Syrer*innen den Geschmack der Freiheit kosten, nach 14 Jahren Krieg, Tod, Zerstörung und Folter. Ein freies Syrien!“, schreibt sie begeistert in einer Nachricht. Und fügt hinzu: „Hoffentlich werden wir zurückkehren.“
Erdoğan ist nun seinem Traum nahe
Erdoğan, der die islamistische HTS in Idlib jahrelang unterstützt hat, ist nun seinem Traum nahe, den er bereits bei Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs 2011 geäußert hatte: in der Umayyaden-Moschee in Damaskus beten. Wohl noch wichtiger für Erdoğan und seine AKP- Regierung aber sind zwei andere mögliche Entwicklungen, die sich aus dem Zusammenbruch des Assad-Regimes ergeben können: erstens die Rückführung einer großen Zahl syrischer Flüchtlinge, von denen derzeit über 3 Millionen in der Türkei leben; und zweitens die syrischen Kurden hinter den Euphrat nach Osten zurückzudrängen.
Unmittelbar nach der Eroberung Aleppos durch die HTS herrschte unter den Kurden in Aleppo nackte Panik. Aus Angst vor den Islamisten flüchteten zehntausende in Richtung kurdisches Autonomiegebiet nach Osten; aus Aleppo, aber auch aus Tal Rifat im Norden von Aleppo, das nach der Eroberung von Afrin durch türkische und protürkische syrische Milizen im Januar 2018 noch von kurdischen Kräften gehalten wurde.
Mittlerweile hat es zwar erste Kontakte zwischen der Führung der Kurden und dem HTS gegeben, bei denen man sich versicherte, gegenseitig nicht anzugreifen, doch die „Syrische Nationale Armee“, die Erdoğan praktisch direkt unterstellten Milizen, halten sich nicht daran. Im Auftrag Ankaras greifen sie die kurdisch-syrischen YPG-Milizen weiterhin mit dem Ziel an, Manbidsch zu erobern, die größte Provinzhauptstadt westlich des Euphrats, die von den syrischen Kurden kontrolliert wird.
Die Kämpfer der „Syrischen Nationalen Armee“ hätten bereits 80 Prozent von Manbidsch unter ihre Kontrolle gebracht, melden die türkischen Nachrichtensender CNN-Türk und NTV am Sonntagnachmittag. Stattdessen haben ganz im Süden des kurdischen Autonomiegebietes die YPG-Milizen die zuvor noch von Assad-Truppen kontrollierte Großstadt Deir al-Sor am unteren Euphrat, fast an der Grenze zum Irak, erobert. Noch ist nicht absehbar, wie weit Erdoğan seine Proxis schicken wird und wie die Grenzen der kurdischen Region am Ende aussehen werden. Zwar gab es am Sonntag auch Bilder von Freudenfeiern aus den syrischen kurdischen Gebieten, doch ob die ersten Absprachen zwischen der HTS und den Kurden sich tatsächlich bis zu einer Einigung auf jeweilige territoriale Einflusszonen entwickeln werden, ist noch völlig offen.
Neben den Kämpfen mit den Kurden schaut man in der Türkei nun vor allem nach Aleppo. Ein großer Teil der syrischen Flüchtlinge in der Türkei stammen von dort, der zweitgrößten Stadt Syriens. Hier wird sich als Erstes zeigen, was die Ankündigungen der HTS, sie wolle für Ruhe, Ordnung und Sicherheit für alle ethnischen und religiösen Gruppen Syriens sorgen, wirklich wert sind. Erdoğan wird sie dabei in Aleppo jedenfalls nach Kräften unterstützen, weil damit die größte Chance entstehen würde, dass tatsächlich viele Flüchtlinge freiwillig zurückgehen.
Israel hat sich verschätzt
Umso entschiedener reagierte die israelische Führung und entsandte in der Nacht auf Sonntag Truppen in eine seit 1974 demilitarisierte Pufferzone entlang der von Israel besetzten Golanhöhen. Der seit 50 Jahren geltende Waffenstillstand sei „zusammengebrochen“, nachdem die syrischen Soldaten ihre Positionen verlassen hätten, sagte Ministerpräsident Benjamin Netanjahu bei einem Besuch an der Grenze.
Israel hat einen Großteil der Golanhöhen im Sechstagekrieg 1967 besetzt und 1981 völkerrechtswidrig annektiert. Der östliche Teil des Höhenzugs ist unter syrischer Kontrolle. Bewaffnete in Gemeinden auf der syrischen Seite hatten sich in den vergangenen Tagen dem Aufstand angeschlossen.
Die Armee teilte mit, dass sie die Pufferzone sowie Israel und seine Bürger schützen werde. Man wolle sich jedoch nicht in „interne Ereignisse in Syrien“ einmischen. Viele in Israel fürchten, dass Kriegswaffen des syrischen Regimes in die Hände der Milizen gelangen könnten.
Netanjahu nannte Assads Sturz einen „historischen Tag“. Sein Land sei an „guter Nachbarschaft“ mit Syrien interessiert, werde aber gegen Bedrohungen an der Grenze vorgehen. Die israelische Luftwaffe griff am Sonntag laut einem Bericht des TV-Senders Kanal 12 eine Chemiewaffenfabrik auf syrischem Gebiet an.
Israelische Politiker forderten noch weitergehende Maßnahmen: Amichai Chikli, Diasporaminister für die Regierungspartei Likud, verlangte am Sonntag, die israelische Armee müsse eine „neue Verteidigungslinie basierend auf der Waffenstillstandslinie von 1974“ einrichten. Der religiös-nationalistische Abgeordnete Zvi Sukkot schlug die Besetzung eines Sicherheitsstreifens auf syrischer Seite vor.
Der unter anderem durch Israels militärische Erfolge gegen die libanesische Hisbollah-Miliz ermöglichte Sieg der Rebellen hinterlässt ein Machtvakuum. Die syrischen Milizen haben sich für einen geordneten Übergang ausgesprochen.
Abu Muhammad al-Jolani, der Anführer der islamistischen Miliz Hajat Tahrir al-Scham (HTS), hat trotz seiner islamistischen Vergangenheit seit 2016 moderate Töne angeschlagen. Regierungschef Netanjahu sagte, man biete all jenen die Hand, die an Frieden mit Israel interessiert seien.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Deutungskampf nach Magdeburg
„Es wird versucht, das komplett zu leugnen“
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Gedenken an den Magdeburger Anschlag
Trauer und Anspannung
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml