Syrien-Expertin über UN-Strukturmängel: „Das Verbrechen des Aushungerns“
Russland blockiert das UN-Hilfsmandat für Syrien. Kein Einzelfall, merkt Konfliktforscherin Emma Beals an. Dabei solle Hilfe ein Menschenrecht sein.
taz: Frau Beals, vergangene Woche scheiterte der UN-Sicherheitsrat daran, den Mechanismus für grenzüberschreitende Hilfe der Vereinten Nationen in Syrien zu genehmigen. Schuld war das Veto Russlands. Am Donnerstag kündigte das Regime an, den Grenzübergang Bab al-Hawa, der die Türkei mit Syriens Rebellengebiet verbindet, doch für sechs Monate zu öffnen. Die gesamte von der UN verwaltete Hilfe hängt nun von Assads Gnade ab. Warum braucht es überhaupt eine UN-Resolution des Sicherheitsrates, um Hilfe zu schicken?
Emma Beals: Zu Beginn der Krise wandte die UN ihre übliche Strategie an. Sie bat die syrische Regierung: Können wir bitte in Gebiete außerhalb Ihrer Kontrolle einreisen, um humanitäre Hilfe zu leisten? Die Antwort war: Nein. Das ging so weiter, alle waren frustriert. Dann verschafften sich NGOs Zugang und leisteten Hilfe, ohne sich mit dem Regime oder der UN abzustimmen. Erst viel später schaltete sich die UN im Rebellengebiet im Nordwesten ein, als klar wurde, dass es unhaltbar war, Damaskus höflich zu bitten. Dann bekamen wir die Resolution 2165 für grenzüberschreitende Hilfe – dreieinhalb Jahre nach Beginn des Konflikts. Die UN und ihre Organe glauben, diese zusätzliche Ermächtigung zu benötigen, um Menschen zu helfen ohne Zustimmung des Staates, der die Hilfe blockiert.
42 Jahre alt, ist Non-Resident Fellow am Middle East Institute in Washington und Senior Advisor am European Institute of Peace in Brüssel. Dieses Jahr veröffentlichte sie die Studie „Convoys, Cross-border, Covert Ops“ über den Umgang mit der staatlichen Blockade humanitärer Hilfe in Syrien, Myanmar und Äthiopien.
Syrien ist also nicht der einzige Fall, in dem Staaten lebensrettende Hilfe blockieren und die UN wenig dagegen tun können?
Auch Myanmar oder Äthiopien blockieren Hilfe für Teile ihrer Bevölkerung, und es gibt weder eine operative noch eine politische Lösung dafür.
Gibt es so etwas wie ein universelles Recht auf humanitäre Hilfe?
Es gibt verschiedene UN-Resolutionen und Vereinbarungen, die besagen: Hilfe darf nicht behindert oder blockiert werden. Aber sie erlauben es den UN-Organisationen nicht, einfach loszuziehen, ohne Erlaubnis der Staaten.
Warum nicht?
Weil die UN das Völkerrecht so auslegt, dass sie eine UN-Resolution oder Zustimmung der zuständigen Regierung braucht, um irgendwo tätig zu werden. Deshalb sind sie manchmal sehr vorsichtig. Andere Akteure der humanitären Hilfe sind anderer Meinung. Sie gehen hin zu den Menschen, die von Hilfe abgeschnitten sind – wenn nötig auch ohne Genehmigung.
Organisationen außerhalb der UN können schneller und ohne die Zustimmung des Staates handeln.
Stimmt. Aber was mir aufgefallen ist: Die Hilfsorganisationen brauchen lange, um überhaupt zu erkennen, dass der Staat aus Absicht handelt. Sie dachten: „Oh, wenn wir ein bisschen härter oder netter verhandeln, lassen sie uns rein“, oder „vielleicht liegt ein Missverständnis vor“. Wenn sie erst einmal die Entscheidung getroffen haben, ohne Erlaubnis reinzugehen, wird alles viel einfacher. Solange sie mit der bewaffneten Gruppe vor Ort verhandeln und Leute finden, die die Hilfe verteilen, können sie ihr Programm sicher durchführen. Humanitäre Helfer*innen verhandeln ständig über Zugang in einem unsicheren Umfeld.
Humanitäre Hilfe für die Menschen im Rebellengebiet Idlib im Nordwesten Syriens bleibt weiter umstritten. Die humanitäre UN-Abteilung OCHA nannte am Freitag neue Bedingungen des syrischen Regimes zur Genehmigung grenzüberschreitender Hilfslieferungen aus der Türkei „inakzeptabel“. Syriens Regierung hatte die Zulassung solcher Hilfen unter anderem an „volle Zusammenarbeit und Koordination mit der Regierung“ geknüpft sowie daran, dass es keinerlei „Kommunikation“ mit „Terroristen“ gebe – als solche bezeichnet das Regime alle seine Gegner.
Ein russisches Veto im UN-Sicherheitsrat hatte am 10. Juli die UN-Genehmigung, unabhängig von Syriens Regierung UN-Hilfsgüter aus der Türkei nach Idlib zu bringen, auslaufen lassen. Damit sind dort nur noch private Hilfsaktionen möglich.
Gibt es innerhalb der UN Lösungen, um Staaten, die die Hilfe blockieren, zu behindern oder zu sanktionieren?
Dafür plädiere ich. Wir brauchen eine Resolution des Sicherheitsrates oder besser noch der Generalversammlung, die besagt: „Menschen haben ein Recht auf Hilfe.“ Das würde die UN-Hilfswerke absichern: Bei systematischer Verweigerung von Hilfe könnten sie einfach reingehen und Hilfe leisten.
Könnte man auch eine unabhängige Einrichtung schaffen, die humanitäre Hilfe genehmigt oder Mitgliedsstaaten sanktioniert, wenn sie humanitäre Hilfe für ihre Bevölkerung blockieren?
Es gibt niemanden, der Entscheidungen des Sicherheitsrates kontrolliert. Innerhalb der UN kann es keine unabhängige Instanz geben, weil sie aus ihren Mitgliedsstaaten besteht. Es sollte eine unabhängige Stelle geben, die Verweigerung von Zugang überwacht und diese Informationen weitergibt, um auf Sanktionen oder diplomatische Lösungen zu drängen. Eine solche Einrichtung müsste sogar unabhängig von den humanitären Organisationen sein, denn die sprechen mit denjenigen, die die Hilfe blockieren, und wollen nicht, dass es so aussieht, als käme die Maßregelung ebenfalls von ihnen. Es dürfte auch nicht der Anschein entstehen, dass solch eine Einrichtung mit einem bestimmten Staat verbunden wäre. Es gibt viele unabhängige Organisationen, die in Bezug auf die Sorgfalt ihrer Arbeit und ihren Ruf legitimiert wären.
Wer wäre international zuständig, um Staaten zur Rechenschaft zu ziehen, die Hilfe für ihre Bevölkerungen blockieren?
Das Verbrechen des Aushungerns kann vor dem Internationalen Strafgerichtshof verhandelt werden. Innerhalb der UN ist es wichtig, dass die UN-Menschenrechtskommission OHCHR und ihre Untersuchungskommission solche Fälle systematisch untersuchen und feststellen, dass die gesamte Blockierung der Hilfe über einen längeren Zeitraum hinweg ein Kriegsverbrechen darstellt.
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