Suizidberatung Online: E-Mails, die Leben retten können
Suizide unter Jugendlichen steigen. Mit einer E-Mail-Beratung der Caritas wollen Gleichaltrige helfen. Können sie die Generation Smartphone erreichen?
Während die Suizidrate insgesamt zurückgegangen ist, stieg sie bei den 10- bis 25-Jährigen an. Auf 550 Todesfälle im Jahr 2016, wie aktuelle Zahlen des Bundesstatistikamts zeigen. Amelie will diese Leben retten.
Normalerweise macht die 25-Jährige das vom heimischen Küchentisch aus, wenn sie Ruhe hat. Dann geht sie Hannes_19 Nachricht mehrmals durch, liest sich den Text laut vor oder druckt ihn aus, um mit dem Marker in der Hand „zwischen den Zeilen zu lesen“. Meistens muss sie das Geschriebene danach erst sacken lassen, sagt Amelie. Drei Jahre war sie selbst „mit suizidalen Phasen“ in Therapie. „Darüber zu reden hat mein Leben verändert.“ Diese Erfahrung möchte sie an Jugendliche weitergeben, die sie ihre „Klienten“ nennt. Derzeit betreue sie drei bis vier gleichzeitig, das sei die obere Grenze.
Seit 2006 berät die Caritas in unterschiedlichen Bereichen über E-Mail oder Chat. Insgesamt 27.700 Kontakte hat die Online-Beratung im Jahr 2017 registriert, heißt es beim Verband, das sei eine Steigerung um fast 30 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Und die Caritas ist mit der Online-Beratung nicht das einzige Angebot. Im Internet finden sich eine Reihe von Hilfsstellen, die Unterstützung per E-Mail, Chat oder Telefon anbieten. Bei dem Projekt „Youth Life-Line“ aus Tübingen oder der „Nummer gegen Kummer“ schreiben wie bei U25 Jugendliche mit Jugendlichen.
Suizide werden durch E-Mails aufgeschoben
Das Feature ist im Rahmen des Programms „Medienvielfalt, anders“ der Heinrich-Böll-Stiftung entstanden. Auf dem stiftungseigenen Blog ist der Beitrag auch zuerst erschienen.
Amelie hat sieben Tage Zeit für die Antwort an Hannes_19. Auch wenn der Schreibende in seiner Selbstmordabsicht „ziemlich entschlossen wirkt“, wie die Beraterin findet. Die Kommunikation solle entschleunigt werden, sagt Anna Gleiniger, Projektleiterin der Berliner Online-Suizidprävention. Ein Problem sei die Verzögerung aber nicht. Suizide würden sogar aufgeschoben, wenn die Hilfesuchenden auf die Antwort der Berater:innen warten. „Dann sagen die, okay, ich wollte mich eigentlich jetzt umbringen, aber ich warte erst noch, was zum Beispiel Lisa dazu sagt.“ Und durch das Aufschreiben in einer Mail würden sich auch bei den Betroffenen die Gedanken sortieren. „Das ist unglaublich hilfreich, weil sich die Krise dadurch vielleicht schon legt“, so die Sozialpädagogin.
Nicht alle im Team denken wie Gleiniger. „Eigentlich müssen wir noch schneller werden“, sagt Niko Brockerhoff. Er ist Projektleiter von U25 in Gelsenkirchen. „Die Digitalisierung ist inzwischen weiter fortgeschritten, und ich wünsche mir, dass wir zum Beispiel über Chat-Beratung kommunizieren könnten.“ Ein Schritt dahin ist die neue Digital-Kampagne der Caritas, welche der Wohlfahrtsverband in diesem Jahr angestoßen hat, um digitaler zu werden. Ab Juli ziehen alle Beratungsstellen auf eine neue Online-Plattform um. Dort will Brockerhoff die einmaligen Kontaktanfragen für die Suizid-Prävention im Chat beraten und die schweren Fälle auf das Mail-System umleiten, um mehr Personen beraten zu können.
Denn der Zulauf für die Online-Suizidprävention ist groß. Täglich melden sich junge Hilfesuchende anonym auf der Website an. Überwiegend sind es Mädchen. „Das hängt damit zusammen, dass Männer immer noch das Gefühl haben, sie dürften nicht über Gefühle reden und sich Hilfe suchen“, sagt Gleiniger. Betroffene landen stets zunächst auf einer Warteliste, bis eine:r der 38 sogenannten Peer-Berater aus Berlin ihnen schreibt oder an eine:n der rund 160 Jugendliche an den neun anderen U25-Standorten in Deutschland weiterleitet.
Über Liebeskummer und Magersucht
Peer-Beraterin Amelie
Experten halten die E-Mail-Beratung für sinnvoll. „Als erste Anlaufstelle ist Beratung per E-Mail eine sinnvolle Ergänzung zur Face-to-face-Therapie“, sagt Markus Moessner, der an Universität Heidelberg zu Essstörungen bei Jugendlichen und „e-Mental-Health“ forscht – der Begriff steht für die Anwendung von Computer, Smartphone oder Tablets bei der Behandlung psychischer Erkrankungen. „Bei Online-Angeboten ist die Kontaktschwelle niedriger, denn bei psychische Störungen gibt es immer noch Scham und die Angst, dass man als schwach gilt“, meint Moessner. Deshalb nehmen Jugendliche seltener direkte Beratungsangebote wahr.
Die Berater:innen von U25 vermitteln auch an Therapieangebote vor Ort. Erst einmal hören sie aber zu. Es geht um Beziehungsprobleme, Gefühle von Überforderung und Sinnlosigkeit, den ersten Liebeskummer oder selbstverletzendes Verhalten. „Im Mailverkehr sind die Jugendlichen unglaublich ehrlich uns gegenüber“, sagt Amelie. Sie selbst stellt sich mit ihrem echten Vornamen vor, ihrem Alter und dem Studienfach. „Wenn jemand fragt, was ich für Sport mache, sage ich das auch.“ Und wenn sie ein gutes Gefühl dabei hat, schreibt sie Sätze wie: „Fühl dich mal fest in den Arm genommen.“ Mit einer Freundschaft sei das aber nicht vergleichbar. „Wie ein Tagebuch, das antwortet“, so beschreibt Gleiniger die Beziehung.
„In den letzten Jahren sind Essstörungen ein unglaublich großes Thema geworden“, sagt Gleiniger über ihre Beratungstätigkeit. Auf Instagram gibt es regelrechte Magersuchts-Wettbewerbe. Dort entstünden mehr Vergleichsmöglichkeiten, vermutet die hauptamtliche Beraterin. „Soziale Medien sind manchmal sehr schädlich. Es kann die Körperunzufriedenheit und Mobbing fördern“, bestätigt e-Health-Forscher Moessner. „Auf der anderen Seite hat die Sichtbarkeit des Themas in den Medien in den letzten Jahren dazu geführt, dass Leute sich eher Hilfe holen.“
Beratung per Whatsapp steht „nicht zur Debatte“
Eine repräsentative Studie des Medienpädagogischen Forschungsverbund Südwest zum Medienverhalten der 12- bis 19-Jährigen zeigt, dass Jugendliche das Internet zum größten Teil am Smartphone nutzen. WhatsApp ist für 87 Prozent das wichtigste Angebot am Handy, gefolgt von Instagram und Snapchat bei den Mädchen und YouTube bei Jungen. Das mache sich im Kommunikationsverhalten bemerkbar, sagt Moessner: „Wir stellen in unseren Studien fest, dass 50- bis 60-Jährige im E-Mail-Kontakt verbindlicher sind als Jugendliche. Für Leute, die gewohnt sind, im Internet zu kommunizieren, ist es normal, wenn man auf eine Mail nicht mehr antwortet.“
Aber auf Whatsapp umzusteigen stehe dennoch „nicht zur Debatte“, sagt Gleiniger. Der Datenschutz sei nicht ausreichend, und die Daten fließen auf Firmen-Server im Ausland. Die Caritas hat deshalb eine sichere Website aufgebaut, dort müssen sich die Nutzer:innen in ein geschlossenes System einloggen, ohne E-Mail-Adresse. Das ist wichtig, weil die junge Zielgruppe eher Messenger-Dienste nutzt und oft keine Mail-Adresse hat. Im Beratungssystem der Caritas ploppen auch keine verdächtigen Benachrichtigungen auf, und die IP-Adressen werden nicht gespeichert.
Das entlastet auf der anderen Seite die Berater:innen vor einer Anzeige wegen unterlassener Hilfeleistung: Wenn sie nicht wissen, wann und wo ein Freitod passiert, können sie auch nicht eingreifen. Auch die Klienten seien beruhigt, dass sie nicht die Polizei rufen können, meint Gleiniger. Wenn es akut wird, schreiben die Berater:innen dennoch öfter. „Am Todestag der Mutter zum Beispiel. Damit jemand gut durch den Tag kommt“, so die Beraterin.
100 Likes für Mutmach-Sprüche
E-Health-Forscher Moessner sagt: „Die Nachteile von asynchroner Kommunikation sind, dass es keine direkten Rückfragen möglich sind und die Gefahr von Missverständnissen größer ist.“ Einige würden in ihren Mails immer nur einen Satz schreiben, sagt Amelie, darauf sei es nicht leicht zu reagieren. „Andere schreiben mehrmals die Woche und dann sehr viel.“ Viele Kontakte bestünden aber sehr lange. „Dadurch entsteht eine gewisse Stabilität“, sagt Amelie.
Und wie geht Amelie mit der unheilverkündenden Stille um, wenn eine Selbstmordgefährdete sich nicht mehr meldet? Nach einiger Zeit frage sie nach. Wenn nichts kommt, sei es besser nicht zu wissen, ob ihre Klientin sich umgebracht hat.
Weil Jugendliche oft über ihre Selbstmordgedanken schweigen, wollen die Engagierten bei U25 dieses Tabu durch ihre Präsenz auf den sozialen Medien brechen. Soweit haben sie sich dem veränderten Medienkonsum ihrer Klienten angepasst, und sie gehören ja selbst zu einer Generation, die Online-Netzwerke nutzt. „Inzwischen informieren wir jede Woche mindestens mit einem Facebook-Posting, was bei uns so läuft“, sagt der U25 Gelsenkirchen-Leiter Brockerhoff. Das Projekt hat auch einen Online-Gamer beauftragt, der auf der Videoplattform YouTube das beliebte „Minecraft“ spielt und ein Gesprächsangebot zum Thema macht. Das spreche vor allem männliche Personen an, sagt Gleiniger. Auf Instagram postet die Sozialpädagogin zudem Sprüche wie „Gib Dich nicht auf und frage nach Hilfe.“ Dafür gibt es jeweils rund 100 Likes.
Zu viel Werbung könnten sie aber nicht machen, meint Gleiniger, denn die Warteliste sei voll, und für mehr Berater:innen reichten sie finanziellen Mittel nicht aus. Über soziale Medien versuchen sie, die Jugendlichen ohne direkte Ansprache zu begleiten. Eine ehemalige Klientin hätten ihre Mutmach-Posts auf Instagram aus der Krise geholfen, erzählt Gleiniger. Einfach, weil die Sprüche immer wieder ihrem Newsfeed auftauchten. Die Beraterin ist sich sicher: Ob per E-Mail oder Instagram-Post, das Schreiben hilft.
Sind Sie oder Angehörige von Selbstmordgedanken betroffen? Sprechen Sie mit anderen Menschen darüber, oder suchen Sie sich ein vertrauenswürdiges Hilfsangebot. Per Telefon, Chat, E-Mail oder im persönlichen Gespräch. Die Beratungsgespräche finden anonym und vertraulich statt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl 2025
Parteien sichern sich fairen Wahlkampf zu
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Bankkarten für Geflüchtete
Bezahlkarte – rassistisch oder smart?