Südosteuropa im Krisenmodus: Wut, die sich mit Wucht entlädt
Bulgarien, Serbien, Montenegro, Albanien – Länder in schwierigen Zeiten. Auf dem Balkan wächst der Unmut über Korruption und politischen Stillstand.
Die Auslöser all dieser Proteste mögen unterschiedlich sein, doch sie alle richten sich im Kern gegen politischen Stillstand, rücksichtslose Eliten und die wirtschaftliche Perspektivlosigkeit, die sich durch die Coronapandemie noch verschärft hat. Seit Anfang der 1990er Jahre, seit der Auflösung des Ostblocks und dem Zerfall Jugoslawiens, befindet sich die Region in einem unvollendeten Wandel.
Reformen haben darin oft nur einen demokratischen Anstrich. So will Albaniens Regierung derzeit das Wahlrecht reformieren: Offiziell ein Schritt hin zur EU-Integration, doch Kritiker*innen warnen, dass die geplante höhere Prozenthürde und das Verbot von Parteizusammenschlüssen vor Wahlen nur der Regierungspartei SP (Sozialistische Partei) nutzen. Die Menschen fühlen sich betrogen.
Proteste entladen sich dann oft spontan und mit großer Wucht. Während der Tage anhaltenden Straßenschlachten in Serbien verschafften sich Demonstrant*innen Zugang zum Parlamentsgebäude. Die Sicherheitskräfte schlugen brutal zurück.
Protestbewegungen ohne klare Linie
Nach ersten Wutausbrüchen folgt dann meist die Ernüchterung – die Proteste verpuffen früher oder später. Ihnen fehlt eine zentrale Organisation, um die Wut zu bündeln und ihr eine Stoßrichtung zu geben. In Serbien etwa zog ein bunter Haufen durch die Straßen, von Linken bis zu rechten Hooligans. Eine Antwort auf das, was nach ihrem Protest kommen soll, haben sie nicht. Und so ist es auch in Belgrad wieder ruhiger geworden.
Auf die politische Opposition können die Unzufriedenen nicht hoffen – denn die ist meist ausgehöhlt oder zerstritten. In Albanien boykottiert die Oppositionspartei DP (Demokratische Partei) – die selbst nicht gerade mit demokratischen Ambitionen glänzt – die parlamentarische Arbeit aus Protest gegen die Regierung. In Serbien hat Aleksandar Vučić sämtliche Medien gleichgeschaltet und kontrolliert seit der Wahl am 21. Juni zwei Drittel des Parlaments. Und in Montenegro hält seit der Unabhängigkeit mit Präsident Milo Ðukanović ein einziger Mann die Strippen in der Hand.
Auch auf die EU setzt kaum jemand – zu lange hat sie sich hinter die jeweiligen Regierungschefs gestellt, allen voran hinter Borissow in Bulgarien, der sich gern proeuropäisch gibt.
Mit jedem Rückschlag, den die Protestbewegungen ertragen müssen, verlassen außerdem mehr und mehr Menschen die Region. In Südosteuropa ist der Exodus junger und gut ausgebildeter Menschen, die nach Westeuropa ziehen, in vollem Gange.
Ob Bulgariens Protestbewegung scheitert, wird sich voraussichtlich nächste Woche zeigen: Dann steht im Parlament ein Misstrauensvotum an, bei dem möglicherweise nicht nur einige Minister*innen ausgetauscht werden, sondern die gesamte Regierung weichen muss.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Sturz des Assad-Regimes
Freut euch über Syrien!
100 Jahre Verkehrsampeln
Wider das gängelnde Rot
Krieg in Nahost
Israels Dilemma nach Assads Sturz
Weihnachten und Einsamkeit
Die neue Volkskrankheit
Missbrauch in der Antifa
„Wie alt warst du, als er dich angefasst hat?“
Grünes Wahlprogramm 2025
Wirtschaft vor Klima