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Suchtmittel in Deutschland10 Prozent der Deutschen brauchen konstante Betäubung

Valérie Catil
Kommentar von Valérie Catil

Viele Deutsche halten die Realität nicht aus, ohne sich regelmäßig auszuschalten. Gibt es nicht genug nachvollziehbare Gründe für die Weltflucht?

Alkohol, eine legale Droge, um nicht an der Welt mit all ihren Grausamkeiten teilzuhaben Foto: Robert Michael/imago

S ucht ist keine bloße Krankheit. Sucht ist auch das Produkt von Verhältnissen, die für viele Menschen nicht mehr auszuhalten sind. Angesichts einer immer grausameren Gegenwart, in der sich Oligarchen vermehrt in die Politik einmischen, der Planet und seine Ressourcen rücksichtslos ausgepumpt werden, arme Menschen auf sich gestellt sind und man sich eigentlich keine utopische Zukunft mehr vorstellen kann, ist es nur logisch, dass es Menschen gibt, die es nicht aushalten, bei vollem Bewusstsein an dieser Realität teilzunehmen. Sie müssen verdrängen. Beweis dafür sind neue Zahlen.

Jede_r zehnte in Deutschland, so schreibt die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS), habe ein Suchtproblem. Jede_r zehnte, das sind 8,2 Millionen Menschen. Ein noch größerer Anteil, nämlich 13 Millionen, konsumiere seine Mittelchen, ob Alkohol, Tabak, Medikamente oder Gras, missbräuchlich.

Sicherlich gibt es Überschneidungen bei den Substanzen – bekanntlich schmecken Zigaretten besser, wenn man ein paar Gläser Wein intus hat, und Gras brauchen oft die, die vom Koks zu hibbelig sind, um einzuschlafen. Doch jedes Suchtmittel hat seinen speziellen Charakter.

Tabak ist von allen Drogen vielleicht diejenige, die den größten Verdrängungswillen erfordert: Denn Tabak ist nicht nur absolut tödlich, sondern auch gesellschaftlich akzeptiert und romantisiert. Sich ständig einzureden, dass man sich bei dieser suizidalen Raucherei – das sage ich als On-off-Raucherin – was Gutes tue, einen Moment für sich nehme, ja auch eine gewisse Geselligkeit herstelle, zeugt davon, welchen Kraftakt im Verdrängen das Rauchen erfordert.

Bald das große Geld?

Mit jedem Zug schüttet der Körper Dopamin aus, man entspannt sich, wird stressfrei und gleichzeitig stimuliert. Das tut gut. 4,4 Millionen Menschen gelingt diese Realitätsflucht. Die Zigarette ist die Verkörperung der ­Irrationalität.

Nicht ganz so viele, nämlich 1,3 Millionen Deutsche, sind glücksspielabhängig. Sie verschulden sich etwa bei Automatenspielen, Sportwetten oder Online-Casinos, spielen auf pathologische Art und Weise, können nicht aufhören. Die Realitätsflucht besteht einerseits im rauschartigen Spiel selbst, das sämtliche Knöpfe im Hirn betätigt, und andererseits darin, sich einzureden, bald das große Geld zu gewinnen.

Die fiesen Reichen kann man ignorieren, seine Lebensrealität muss man nicht in politische Forderungen übersetzen, die eigene Unterdrückung, wenn es diese gibt, ist egal. Denn bald ist man ja selbst ganz oben.

Eine geheime Verzweiflung

Dann gibt es noch die offensichtlichen Drogen. Legale wie Alkohol (1,6 Millionen Deutsche sind danach süchtig) oder Gras (300.000) und verbotene harte Drogen wie Crack, Heroin, Koks, Fentanyl (insgesamt etwa 150.000) – oder Medikamente (1,8 Millionen).

Abgesehen davon, dass Menschen, die in ihrer Kindheit Traumata erlebt haben, sich später besonders empfänglich für Drogenmissbrauch zeigen, sind diese Drogen auch das effektivste Mittel, nicht an der Welt mit all ihren Grausamkeiten teilzuhaben. Die Drogen wirken sich am drastischsten auf den physischen oder psychischen Zustand aus, es endet immer häufiger in der absoluten Flucht, dem Tod.

Wenn mindestens 10 Prozent der Deutschen eine konstante Betäubung in welcher Form auch immer benötigen, um bloß nicht zu stark wahrzunehmen, was da außerhalb der eigenen körperlichen Grenzen geschieht, kann das keine bloße Krankheit sein. Es ist auch eine geheime Verzweiflung.

21 Prozent wählen die destruktivste Droge

Die sogenannte Doomsday-Clock steht laut dem Bulletin for Atomic Scientists bei 89 Sekunden vor Mitternacht, vor einem „globalen Desaster“. Die DHS fordert vor der Bundestagswahl richtigerweise, dass Menschen mit Süchten adäquate Hilfe bekommen. Doch man darf auch Größeres fordern: eine Welt, die nüchtern auszuhalten ist.

Tut sich nämlich nichts, greifen laut Umfragen mindestens 21 Prozent zu einer noch destruktiveren Droge: Die Wahl einer rechtsextremen Partei. Die AfD ermöglicht die ultimative Realitätsflucht; zurück in eine Welt mit Verbrennern, mit Atomkraft, zurück in eine Welt, in der Minderheiten noch unterdrückter sind, zurück zu einem traditionellen Frauen- und Familienbild (was auch immer das bedeuten mag), zurück in prä-EU – oder in noch deutlich finsterere Zeiten.

Wähler_innen der Rechtsextremen betäuben sich mit der Hoffnung, als Gewinner dieser gruseligen Zeitreise davonzukommen. Was am Ende wie die Qualmerei nicht nur ihm selbst schadet – sondern allen, die er durch seine Entscheidung mit in Haftung nimmt.

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Valérie Catil
Gesellschaftsredakteurin
Redakteurin bei taz zwei, dem Ressort für Gesellschaft und Medien. Studierte Philosophie und Französisch in Berlin. Seit 2023 bei der taz.
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15 Kommentare

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  • Ich bin süchtig danach, Leserbriefe zu schreiben. Jeden Morgen sitze ich nach taz, Guardian und Rundschau schwitzend und zitternd mit meinem Handy da und schreibe, bis mein Blick nicht mehr in die Ferne reicht. Will ich recht haben und es beweisen? Gleichgesinnte finden und trösten? Bekehren? Welt retten? Es tut so weh, zu sehen, dass den Menschen die Menschlichkeit abtrainiert wird wie Pavlov'schen Hunden. Das kann ich doch nicht unwidersprochen lassen. Aber nichts hilft. Trotzdem kann ich nicht aufhören. Sonst konsumiere ich nichts Härteres als Kaffee. Ich muss ja klar denken können, um verständlich zu schreiben.

  • Die AfD, ein Sammelbecken Drogenabhängiger?



    Finden sie ihre Theorie dann nicht doch etwas übertrieben?

  • Es sind also die Verhältnisse, die Schuld sind. Überaschung, wer wäre da wohl drauf gekommen. Irgendwie ist es ein bisschen auch die Entscheidung von Menschen, die ja auch Individuen sind und nicht nur Ergebnis von "Verhältnissen". Anders herum 90% scheinen ja total nzufrieden mit den Verhältnissen, da scheinen die Verhältnisse ja brilliant zu sein. Was für eine schöne Welt mit 90 % Zufriedenheit der Menschen. Da möchte ich auch leben

  • Aber da haben wir doch Erfahrung: wenn es denn wieder so schief geht wie das letzte Mal, war´s am Ende keiner so richtig gewesen. Dann sind ein paar Typen Schuld an allem und der Rest hat gar nix mitbekommen und schon gar nix gemacht. Dann werden die, die man für den Aufbau braucht, reingewaschen und dürfen wieder ganz vorne mitspielen und die, die sichtbar in der Opposition waren, werden mundtot gemacht. Wäre ja auch zu peinlich, sich sagen zu lassen, dass man durchaus früher hätte was dagegen tun können. Sch....., es geht schon wieder los.

  • Und über die gefährlichste Droge mit dem höchsten Suchtpotential und grössten gesellschaftlichen Schaden, Ursache von 90% der anderen Süchte, redet man natürlich nicht: Geld. Die Geldsucht der 1% verwandelt unseren Planeten in eine dystopische Hölle, die nur noch vollbreit zu ertragen ist.

  • Die Sucht und Drogennutzung war in den 70ern und der Anteil bei den extremen Linken, seiner Zeit deutlich höher und da gab es keine AFD.



    Außerdem gab es 1974 größere Problemherde und deutlich mehr weltweite Ungerechtigkeiten, es gab halt keine Smartphones die permanente Paniknachrichten verbreiten.

  • Hier sind nur Suchtmittel aufgeführt. Nimmt man noch andere Süchte, wie Sport oder Shopping hinzu und dann auch noch andere Ablenkungsmanöver wie Freizeitaktivitäten, an der Börse um Geld zocken oder sich verabreden, um sich blos nicht mit irgendwas auseinanderzusetzen zu müssen.



    Nein, Drogen gehören schon immer zum Menschen, schließlich ernährte sich der Mensch mal ausschließlich aus der Natur. Aber wie konsumiere ich sie, mit welcher inneren Haltung und mit welcher Beziehung zu ihnen und zur Natur mache ich das? Schon eh und je nutzten Menschen Substanzen um das Bewusstsein zu bewegen und sich zu öffnen. Als „Dank“ erhielten sie direkte Informationen aus der Natur. Es war ein Miteinander und das öffnen des Geistes lies die Menschen weise werden und weise Entscheidungen treffen. Ich denke, diese Weisheit fehlt uns heute und würde allen gut tun.



    Ich kann mir nicht vorstellen, dass es eine AfD, fdp oder cdu gäbe, die auf psilocybin ist. So was macht man nicht, wenn man die Weisheit des Pilzes erfahren hat.



    Ist doch klar, dass ich mich in einer Scheiss-Gesellschaft weg ballere. Wer will denn das freiwillig aushalten müssen? Mit jedem Bier nach der Arbeit wird der Frust weggespült.

  • Und obendrauf das Suchtmittel, das keiner auf dem Schirm hat, weil es kaum noch Menschen gibt, die nicht an ihm hängen würden wie der Junkie an der Heroinfixe (ich selbst mache da leider auch keine Ausnahme): INTERNET!!!

    Abschalten, abschalten, abschalten! Weltweit!

  • Einfach die AfD-Partei verbieten [Problem Gelöst]

  • Die gigantischen CSU-Bierzelte in Bayern machen es vor, während sie darin ihren Kulturkampf gegen andere Drogensubstanzen planen, um im vollen Rausch an ihrer Doppelmoral aufzugeilen.

  • Wann ist die Linke so spießig und puritanisch geworden? Ich sollte aufhören taz zu lesen und meine Zeit lieber nutzen um Queen Omegas Lobgesängen auf jamaikanische Kräuter zu lauschen, während ich guten Wein trinke.

  • Wenn Internetsucht, online shopping, pornosucht, antidepressiva, Computerspiele und workaholismus zaehlen wuerden, ist es die Mehrheit.

  • Diese Betäubung werden viele von uns nach dem 23.Februar benötigen...

  • Gut recherchiert, fast alle Aspekte benannt. Gibt´s Suchtmittelhersteller, die gleichzeitig Kliniken für Suchtkranke betreiben?

  • „Tut sich nämlich nichts, greifen laut Umfragen mindestens 21 Prozent zu einer noch destruktiveren Droge: Die Wahl einer rechtsextremen Partei.“

    Diese Zahl ist sehr wahrscheinlich deutlich zu niedrig angesetzt. Vermutlich muss sie ungefähr verdreifacht werden. Würde der Möchtegern-Kanzler der Union sonst versuchen, dem staunenden Publikum zu beweisen, dass er die AfD überflüssig machen und trotzdem noch regieren kann? Ich meine: Ohne vorher seine Haus-und-Hof-Demoskopen gefragt zu haben, sagt Merz doch bestimmt gar nichts, oder?