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Studie über MittelschichtAbstiegsrisiko ungleich verteilt

„Bröckelt die Mittelschicht?“, fragt eine Studie von OECD und Bertelsmann Stiftung. Für eine einfache Antwort aber ist „die Mittelschicht“ zu komplex.

Stabile Mittelschicht: eingeschneites Werl im Februar 2021 Foto: Hans Blossey/imago

Berlin taz | Die Mittelschicht in Deutschland ist seit 1995 geschrumpft. Zählten damals noch 70 Prozent der Gesamtbevölkerung zu dieser Gruppe, sind es nach den aktuellen Daten von 2018 noch 64 Prozent. Das ergab eine Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD) und der privaten Bertelsmann Stiftung. Der größte Teil der Absteiger aus der Mittelschicht habe demnach vor 2005 an Einkommen verloren, seitdem habe sich die Mittelschicht stabilisiert.

Im Vergleich mit 25 anderen OECD-Ländern schrumpfte die Mittelschicht nur in Schweden, Finnland und Luxemburg stärker. Trotz des gesunkenen Anteils spricht die Analyse insgesamt von einer „recht stabilen Mittelschicht in Deutschland.“ Sie sei immer noch ähnlich groß wie in den vergleichbaren Ländern Österreich, Frankreich, Großbritannien und der Schweiz. Aber es sei in Deutschland schwieriger geworden, in die Mittelschicht aufzusteigen.

Wer zur Mittelschicht gehört, ist nicht allgemeingültig definiert, manche Analysen nehmen größere Gruppen in den Blick als andere. Die Untersuchung der OECD und Bertelsmann Stiftung zählte alle zur Mittelschicht, deren Nettoeinkommen im Monat zwischen 1.500 und 4.000 Euro beträgt. Bei einem Paar mit zwei Kindern das jeweils Doppelte. Das entspricht 75 Prozent beziehungsweise 200 Prozent des mittleren Einkommens in Deutschland. Von Einkommensverlusten sind aber nicht alle Teile gleichstark betroffen.

Besonders die untere Mittelschicht ist gefährdet. Dazu gehören jene, die pro erwachsene Person ein Nettoeinkommen von 1.750 bis 2.000 Euro zur Verfügung haben. Je­de*r fünfte dieser Gruppe verlor zwischen 2014 und 2017 an Einkommen und galt dann als armutsgefährdet oder arm.

Frauen besonders betroffen

Bei den 18- bis 29-Jährigen sank der Anteil ebenfalls überdurchschnittlich stark um 10 Prozent. Verglichen mit der Generation der Ba­by­boo­me­r*in­nen gelang es deutlich weniger Menschen aus dieser Generation, in die Mittelschicht aufzusteigen.

Die Analyse ergab einen starken Zusammenhang zwischen Einkommensveränderungen und Bildungsabschlüssen. Unter denen ohne Abitur oder Berufsausbildung gelang der Aufstieg noch seltener als ohnehin schon. Wer im Niedriglohnsektor arbeitet, habe es besonders schwer, „da der Niedriglohn nur selten ein Sprungbrett in besser bezahlte Beschäftigung darstellt“, wie es von der Bertelsmann Stiftung heißt.

Eine weitere besonders betroffene Gruppe sind Frauen. Die Studie bestätigt erneut, dass Frauen zwar häufiger arbeiten als früher, aber häufig in Berufen, für die sie überqualifiziert sind, und mit einer geringen Stundenzahl. Problematisch ist dabei das geringe Einkommen, das in Berufen, in denen hauptsächlich Frauen arbeiten, üblich ist, wie etwa die Pflege oder Erziehung.

Die Au­to­r*in­nen der Studie plädierten daher dafür, den Umfang und die Qualität der Jobs von Frauen zu verbessern. Die aktuellen Gesetze zum Ehegattensplitting und Minijobs würden Frauen ebenfalls benachteiligen. Eine Reform könne hierbei Abhilfe schaffen. Eine jüngst veröffentlichte Studie ergab, dass mehr als 100.000 zusätzliche Beschäftigungen für Frauen möglich wären.

Schon im vergangenen Monat hatte der Verteilungsbericht der Hans-Böckler-Stiftung nahegelegt, dass die untere Mittelschicht am stärksten in der Coronakrise gelitten hat. In einer dort analysierten Befragung gab mehr als die Hälfte aus der Einkommensgruppe von 1.500 bis 2.000 Euro an, durch die Pandemie über weniger Einkommen zu verfügen.

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6 Kommentare

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  • Absteiger aller Länder, vereinigt Euch ! Es ist ja nicht Eure Schuld, wenn weniger Qualifikation gebraucht wird und Profite bei weiter entwickelter Technologie auch ohne menschliches Zutun erhöht werden kann. Und Spargelstecher sind besser einsatzbar, wenn sie schnell wieder und ohne teure Sozialkosten abgeschoben werden können. Bald wird die Drohne die Amazon-Zusteller und Lieferando-Ausgebeuteten ersetzen, alles nur eine Frage der Zeit. Drohnen lassen sich recykeln ohne Rente.

  • Es wundert mich dass zum Thema "sozialer Aufstieg" immer die gleiche Lösung, nämlich "Bildung" propagiert wird. Man unterstellt damit unterschwellig dass der "ungebildete" einfach zu Dumm zum Geldverdienen ist. In der Realität ist es weniger die Bildung als viele tausende Gesetze und Verordnungen die Menschen vom Aufstieg fernhalten. Aufstieg entsteht durch Vermögen und weniger durch Einkommen. Gerade in Deutschland ist die Bildung von Rücklagen und Überführung in Vermögen stark eingeschränkt sofern man kein Grundkapital besitzt. Hinzu kommt die Eigenkapitalbeschaffung ohne Sicherheiten die in Deutschland faktisch kaum Möglich ist. Selbst gut gemeinte Programme der KFW für Gründer scheitern am Verfahren weil die örtliche Sparkasse oder Hausbank über die Kreditvergabe entscheidet. Weiter hat in vielen Bereichen das Einkommen kaum was mit der Bildung zu tun, bei uns sind tausende in den 1980ern als Bäcker, Ungelernte oder Frisöre zu Daimler ans Band und haben heute 3500€/Netto. Vor kurzem wurde ein Bekannter mit 340tsd€ Abfindung in den vorgezogenen Ruhestand versetzt, der war KFZ Mechaniker und 32 Jahre bei Mercedes am Band und später in der Endkontrolle tätig. Alle die ich da kenne haben mehrere Eigentumswohnungen und Häuser. Diese wurden finanziert weil Mercedes als sicherer Arbeitgeber galt und somit war den Arbeitern dort der Aufstieg möglich weil sie recht einfach Kredite aufnehmen konnten die dann die Vermögensbildung ermöglicht haben.

    • @Tom DaSilva:

      "Eigenkapitalbeschaffung ohne Sicherheiten" Sie verwechseln Eigen- mit Fremdkapital.

      "Man unterstellt damit unterschwellig dass der "ungebildete" einfach zu Dumm zum Geldverdienen ist." Diese Annahme ist falsch. Richtig ist lediglich, dass "ungebildete" in der Regel nicht die richtigen Voraussetzungen für gut bezahlt Jobs mitbringen.

      "Ungelernte oder Frisöre zu Daimler" Solche Jobangebote wird es in Zukunft halt nicht mehr geben.

      "Aufstieg entsteht durch Vermögen" Richtig, nur ist ein Vermögensaufbau halt nur aus Überschüssen aus dem Einkommen möglich.

  • "Die aktuellen Gesetze zum Ehegattensplitting ... würden Frauen ebenfalls benachteiligen."

    Das Ehegattensplitting bringt Verheirateten allenfalls Vorteile, nie Nachteile.

    Als nachteilig könnte sich allenfalls eine ungünstige Lohnsteuerklassenwahl auswirken. Das hat mit dem Ehegattensplitting nichts zu tun.

    Man könnte ohne weiteres die Steuerklassen 3 und 5 einfach abschaffen, schwupps wäre das Problem gelöst.

  • Alle Spatzen pfeifen es von den Dächern und auch OECD Untersuchungen stellen immer wieder fest, dass der soziale Aufstieg in Deutschland enorm schwierig bzw. kaum möglich ist. Und "sozialer Aufstieg" bedeutet, dass über größere Bildungschancen auch Menschen aus unteren Schichten in Bereiche aufsteigen können, die oft durch AkademikerInnen geprägt sind.

    Eine -was immer das sein soll- stabile Mittelschicht könnte auch bedeuten, dass die Definition von Mittelschicht sehr undifferenziert formuliert wurde.

  • Ein ausgewogener Artikel über ein komplexes Thema. Die Aufstiegsgeschichte, dass es die Kinder mal besser haben werden als deren Eltern ist noch intakt, jedoch insgesamt etwas erschwerter als noch vor 20 Jahren. Das muss einerseits eng weiter beobachtet werden, und ggf. verstärkter Augenmerk auf faire Bildungschancen gelegt werden. Die oft gelesene Vokabel des Raubtierkapitalismus usw. der nur den Reichen dient ist keinesfalls zutreffend, zumindest nicht in DE.