Studie über Kinderzufriedenheit: Mehr brüllen
Laut Unicef sind Deutschlands Kinder unzufriedener als in Nachbarländern. Das Glück der Kleinen steht zu selten im Mittelpunkt, meint unser Autor.
Ein unglückliches Kind, das ist wie ein Sommergewitter – oder sollte es doch sein: eines, das aus dem Nichts kommt und heftig einschlägt. Nach dem Sturm ist die Luft rein, die Tränchen verdampfen, und es gibt ein großes Eis.
Als ich einst meine älteren Kinder fragte, wie sie es fänden, dass meine neue Partnerin und ich ein Baby bekämen, da war die Antwort: „Mittel.“ Das war ein cooler Ausdruck von Unglück – weniger über das beziehungsweise die, die da neu zu uns in unsere verwürfelte Familie kam; sondern über die Vergangenheit, die gescheiterte Beziehung, deren Leidtragende nicht zuletzt eben auch sie waren. Meine älteren Kinder waren unglücklich, weil ich sie in Situationen brachte, die sie sich nicht ausgesucht, auf die sie keinen Einfluss hatten. Und meine Aufgabe als Erwachsener war es, zu meinen Entscheidungen zu stehen und durch meine Handlungen zu beweisen, dass ich sie immer mitbedacht hatte. Um so ihr Unglück zugleich ernst zu nehmen und es aufzuheben.
Wenn Kinder über einen längeren Zeitraum unglücklich sind, dann sind dafür immer Erwachsene verantwortlich, nie andere Kinder. Das Hilfswerk Unicef hat nun an die Regierungen von Industrieländern appelliert, in ihrer Politik stärker auf das Wohlergehen von Kindern zu achten. Diese Ausrichtung überrascht und befremdet vielleicht sogar an Tagen, in denen uns das Bild des zweijährigen Alan Kurdi vor Augen steht, des syrischen Jungen im roten Hemdchen, dessen Leichnam am 2. September vor fünf Jahren an der türkischen Mittelmeerküste aufgefunden wurde. Ist dagegen nicht jedes westliche Kindsunglück schlicht eine Form der Wohlstandverwahrlosung?
Vor zwei Tagen auch war im österreichischen Standard eine Kolumne zu lesen, die in ihrem Tonfall durchaus nicht allein dasteht: Unter dem Titel „Die Patchwork-Hölle“ geht es darin um verzogene Kinder, denen man „großräumig“ ausweichen solle. Schuld an den sich präpotent betragenden Blagen seien elterliche Schuldkomplexe, die den Kleinen „unendlich viel Macht“ verliehen: „Pommes frites zu jeder Tages- und Nachtzeit – sonst drohen Rocco und Lea-Minou mit der Kündigung ihrer ewigen Liebe. Sonst wird im Wirtshaus mit den Fäusten auf den Klinkerboden getrommelt und eine Stunde lang durchgebrüllt.“
Befreit von dauerhaftem Unglück
Mich stört es eigentlich nie, wenn Kinder brüllen. Denn erstens ist das Brüllen zumindest ein Hinweis, meist ein nicht anders artikulierbarer, dass etwas nicht stimmt. Und zweitens wird von Erwachsenenseite für Kinder ja viel zu wenig gebrüllt. Die Unterstützung von Kindern und ihren Familien in den Industrieländern während der Covid-19-Pandemie sei erschreckend unzureichend, sagt Unicef.
Kürzlich schrieb uns ein Leser, wie er eigentlich von ihm betreuten Jugendlichen die Gefährlichkeit einer Ansteckung mit dem Covid-19-Virus vermitteln solle, wenn sie live übertragen und bombastisch beworben zusehen könnten, wie in Fußballstadien Dutzende von Menschen ohne Mundschutz ihre Aerosole austauschten.
Man soll sich durch schmissige Kolumnen und Sonntagsreden nicht täuschen lassen: In Deutschland steht nur eine Gruppe hinsichtlich der tatsächlichen Fürsorge der Gesellschaft noch hinter den Kindern an allerletzter Stelle – und zwar die Kinder der Armen und Rechtlosen. Das zeigt sich an der Sozialpolitik, an der Schulpolitik, an der Verkehrspolitik, in der Kriminalitätsbekämpfung. Die Regel ist: Es muss immer erst etwas Grauenvolles passieren, damit sich vielleicht etwas bewegt. Eine erwachsene Gesellschaft würde das Kind in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stellen, ohne darüber kindisch zu werden. Es ist nämlich nicht unleistbar, ein Kind aus dauerhaftem Unglück zu befreien. Aber mehr als ein Eis braucht es halt schon.
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