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Studie aus Gangelt zu CoronaKeine Frage des Alters

Bonner Forscher schätzen die Zahl der Coronainfizierten in Deutschland auf 1,8 Millionen. Infektionsraten hängen laut der Studie nicht vom Alter ab.

Der Virologe Hendrik Streeck, in einem Labor seines Instituts Foto: Federico Gambarini/dpa

Kinder haben offenbar kein geringeres Risiko als Erwachsene, sich mit dem Coronavirus zu infizieren. Das ist eines der Ergebnisse der nun abschließend ausgewerteten Daten der „Heinsberg-Studie“ von Forschern des Universitätsklinikums Bonn. Der Studienleiter Hendrik Streeck, Direktor des dortigen Instituts für Virologie, stellte sie am Montag auf einer digitalen Pressekonferenz des science media center vor. Die Uniklinik Bonn veröffentlichte zeitgleich eine erste schriftliche Vorabversion der Untersuchung. Sie soll demnächst von unabhängigen Wissenschaftlern in einem sogenannten Peer-Review-Verfahren begutachtet und dann in einem Fachjournal publiziert werden.

Danach sind die Infektionsraten bei Kindern, Erwachsenen und älteren Menschen „sehr ähnlich und hängen offenbar nicht vom Alter ab“, sagte Streeck. Es gebe auch keine signifikanten Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Und: Jeder fünfte Infizierte (22 Prozent) zeigte keine Symptome; viele Studienteilnehmer erfuhren erst, dass sie überhaupt krank waren, als sie getestet wurden.

Streeck und sein Forscherteam hatten in der Gemeinde Gangelt im Kreis Heinsberg in Nordrhein-Westfalen zwischen dem 30. März und dem 6. April insgesamt 919 Einwohner in 405 Haushalten befragt und mit Rachenabstrichen sowie Antikörpertests auf eine akute oder bereits durchgemachte Coronainfektion getestet. In dem Ort hatten sich Mitte Februar nach einer Karnevalssitzung viele Menschen mit dem Virus infiziert; die Gemeinde gilt seither als Corona-Hotspot. Mit anderen Regionen Deutschlands ist sie aufgrund der sehr viel höheren Infektionszahlen jedoch nur bedingt vergleichbar.

Vor dreieinhalb Wochen hatten Streeck und sein Team bereits erste Zwischenergebnisse auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem NRW-Ministerpräsidenten Armin Laschet (CDU) präsentiert, dessen Landesregierung die Studie mit 65.000 Euro mitfinanziert hatte. Dafür waren sie auch von anderen Wissenschaftlern scharf kritisiert worden: Ohne Manuskript seien die Ergebnisse schwer nachvollziehbar und damit wenig aussagekräftig.

Sterblichkeitsrate könnte Schätzwert sein

Am Montag nun erklärte Streeck, dass die damals als vorläufig berichteten Daten sich bestätigt hätten: Danach waren in Gangelt 15 Prozent der Einwohner infiziert, und die Infektionssterblichkeitsrate, die den Anteil der Todesfälle unter den Infizierten angibt, lag in Gangelt bei 0,37 Prozent. Allerdings flossen in die Berechnung lediglich sieben Todesfälle ein. Bisher, so Streeck, sei man von einer Sterblichkeitsrate von 0,2 bis 1,5 Prozent ausgegangen; die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hatte sogar von 3,4 Prozent gesprochen. Diese Spannbreite könne nun besser eingegrenzt werden, so Streeck.

Und der Virologe ging noch weiter. Die Sterblichkeitsrate aus Gangelt könne als Schätzwert benutzt werden für eine Hochrechnung für ganz Deutschland. Streecks Modellrechnung funktioniert in etwa so: Der Wissenschaftler nimmt erstens an, dass die Sterblichkeit in ganz Deutschland ungefähr gleich hoch ist. Wenn zweitens bekannt sei, wie viele Infizierte auf einen Toten kommen, dann könne man von der Zahl der Verstorbenen – laut Robert-Koch-Institut derzeit rund 6.500 – auf die Zahl der tatsächlich (erfassten und auch nicht erfassten) Infizierten schließen. 1,8 Millionen Menschen könnten sich dieser Modellrechnung zufolge deutschlandweit bereits infiziert haben.

Der Leiter der Abteilung Epidemiologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig, Gérard Krause, warnte während der Pressekonferenz des science media center allerdings vor einer solchen Verallgemeinerung für ganz Deutschland. Obwohl die schriftliche Studie insgesamt „sehr überzeugend“ sei, so Krause, sei er bezüglich der Übertragung der Daten auf ganz Deutschland doch „eher zurückhaltend“.

So lasse sich zum einen einwenden, dass der Anteil der an Covid-19 Verstorbenen in Gangelt ungewöhnlich niedrig sei. Zum anderen könne es sein, dass die starke Ausbreitung des Virus in Pflege- und Altenheimen, wie man sie zuletzt andernorts beobachten konnte, in Gangelt zum Zeitpunkt der Untersuchung noch gar nicht berücksichtigt werden konnte. Und schließlich falle aufgrund der kleinen Einwohnerzahl – in Gangelt leben nur rund 12.597 Menschen – bereits ein einzelner Todesfall stark ins Gewicht, was zu Verzerrungen führen könne.

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4 Kommentare

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  • Aktuelle COVID-19-Studie aus den USA

    "Neben dem Alter sind vor allem auch Vorerkrankungen bei Patienten ein Grund dafür, dass Covid-19 einen schweren Verlauf annimmt. Wie welt.de berichtet, ist der größte Risikofaktor dabei jedoch nicht Asthma oder eine lange Raucherkarriere, sondern die krankhafte Fettleibigkeit - auch Adipositas genannt. Diesen Schluss konnten US-amerikanische Forscher aus einer in New York durchgeführten Fallstudie ziehen."

    "Auch die Beobachtungen Karsten Schmidts, Facharzt für Anästhesie und leitender Oberarzt auf der anästhesiologischen Intensivstation am Universitätsklinikum Essen, decken sich mit den Erkenntnissen der US-amerikanischen Studie: „Die meisten Patienten, die mit schweren Covid-Verläufen zu uns auf die Intensivstation kommen, sind tatsächlich übergewichtig bis adipös."

    www.merkur.de/welt...s-zr-13747151.html

    www.aerzteblatt.de...f-Hospitalisierung

    www.medrxiv.org/co...0.04.08.20057794v1

    • @Christina de Havilland :

      P. S.: Untersucht wurden 4 100 COVID-19-Patienten!

  • Das Gute an dieser Untersuchung ist doch, dass man damit erstmals nicht nur Schätzungen und Modellrechnungen, sondern auch richtig harte Zahlen hat. Es leuchtet unmittelbar ein, dass eine vergleichsweise niedrige Infektionssterblichkeitsrate von 0,37% insbesondere in Hot-Spots mit Alten- und Pflegeheimen oder Massenunterkünften kaum zu halten sein wird. In Schweden sind nahezu die Hälfte aller Todesfälle aus derartigen Einrichtungen gemeldet worden, was doch direkt zu der Frage leiten muss, wie man genau diese Kohorten deutlich besser schützen kann.

  • 0G
    06438 (Profil gelöscht)

    Als ursächlich für die Sterberate scheinen Alter und Gesundheit kombiniert mit dem Umstand und der Frage, ob jemand allein an dem Virus verstorben ist oder ob die Virusinfektion zu anderen Krankheiten hinzu gekommen ist.

    Die Sterberate aus Gangelt / 7 bzwh. 8 Tote und die Menge der untersuchten Gruppe erscheint doch zu gering als das sich dieses Ergebnis verallgemeinern liesse. Darüber hinaus relativiert sich die Bedeutung der Sterberate durch die Erkenntnis, das der Virus (dauerhafte?) Schädigungen am Herz, Kreislauf und Nerven hinterlässt.

    Interessanter erscheint daher die Frage andersherum gestellt: Warum zeigen 22% der Infizierten keine Symptome? Welche Eigenschaften besitzt die Untersuchsgruppe der 22% welche die 78% , die die Krankheit erlitten haben, offensichtlich nicht besitzen?