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Strickend in den Flow kommenMeine neue Masche

Lange litt unsere Autorin am „Second Sock Syndrome“: Sie strickte eine Socke und war zu frustriert für eine zweite. Wie sie diesen Zustand überwand.

Handarbeit trendet unter jungen Leuten Foto: Roberto Manzotti/plainpicture

S o oft habe ich mich am Stricken versucht. Ich romantisierte die Idee, Selbstgemachtes zu tragen, und irgendwann gelang mir dann sogar mal eine Mütze. Doch die ausgebeulte, löchrige Socke, an die ich mich als Nächstes wagte, blieb für immer allein. Als ich auf Reddit über das Sockenstricken las, fand ich sogar einen Namen für dieses Phänomen: „Second Sock Syndrome“.

Damals druckte ich mir Anleitungen aus, hangelte mich mehr schlecht als recht durch und gab schnell wieder auf. Als ich diesen Spätsommer auf der dreitägigen Fähre nach Island nach einer Beschäftigung suchte, die keine lange Bildschirmzeit oder Buchstaben beinhaltete, die mich seekrank machen könnten, entdeckte ich im Fährshop Wolle von den Färöer Inseln. Ich kaufte ein paar Knäuel und die passenden Nadeln, setzte mich ins Schiffscafé und öffnete Youtube. Mit Bewegtbildern und Stimme fiel mir das Verstehen leichter. Konnte ich mit der Erklärung einer Strickerin nichts anfangen, klickte ich einfach auf das nächste Video. Die Vielfalt der Tutorials hat das Strickenlernen demokratisiert, die Einstiegshürde, zumindest für mich, verkleinert.

Ich schlug Maschen an, strickte den Bund, den Mittelteil in Runden glatt rechts, wechselte die Farbe und fand sogar eine Methode für die Ferse – das, was damals auf der gedruckten Anleitung wie hohe Mathematik oder Magie schien, verstand ich nun auf Anhieb. Die zweite gestrickte Socke meines Lebens war nicht perfekt, doch sie machte mich stolz. Das „Second Sock Syndrome“ blieb diesmal aus, und einige Zeit später hatte ich ein Paar Wollsocken fertig, gemacht aus Faröer-Wolle in den Farben „Aurora Borealis“ – weiß gesprenkelt mit Dunkellila und Grüntönen – und Grau.

Zurück auf dem Festland hatte ich Lust auf mehr Socken und fand heraus, dass ich damit nicht allein bin. Stricken trendet, insbesondere in der Altersgruppe der 18- bis 29-Jährigen. Vielleicht stillt es bei vielen Menschen eine Sehnsucht nach Entschleunigung und dass man seine Hände mal für was anderes benutzt als nur fürs Tippen auf Tastaturen und dem Smartphone. Stricken ist ein Gegenpol zu Reizüberflutung, ein Digital Detox, bei der man das Endergebnis anfassen, sogar tragen kann.

Stricken ist was für Leute, die an Meditation scheitern

Stricken ist Multitasking, aber mit festem Rahmen. Ich muss immer wieder den Faden stramm ziehen, die Reihe wechseln, mal links, mal rechts stricken, Maschen abheben – doch nicht mehr. Ich werde, anders als von meinem Handy, nicht mit unendlichen Möglichkeiten bombardiert, sondern habe einen begrenzten Handlungsraum und ein klares Ziel.

wochentaz

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Und dann ist das Ganze noch positiv für das Gehirn. Irgendwann geht die Strickbewegung ins Muskelgedächtnis über und weniger Konzentration ist nötig, um Fortschritte zu machen. Dabei kann „Flow“ entstehen. Die Gedanken fließen wie beim Meditieren vorbei, während die Hände immer wieder dieselben Bewegungen wiederholen. Der ungarische Psychologe Mihály Csíkszentmihályi prägte den Begriff „Flow“ für den Zustand völliger Vertiefung in eine Tätigkeit, bei der das Tun selbst Freude bereitet. Flow kann bei jeder Tätigkeit entstehen, bei der man vollständig in seinem Handeln aufgeht. Beim Stricken kann es zu Flow kommen, wenn Konzentration, Geschick und Herausforderung im Gleichgewicht sind – Zeit und Umgebung treten in den Hintergrund.

Stricken ist was für Leute, die an Achtsamkeitsübungen oder Meditation scheitern. Es ist meditativ, mit dem positiven Nebeneffekt, dass die Hände etwas zu tun haben. Ich trainiere meine Feinmotorik, konzentriere mich auf eine Sache. Wenn meine Hände die Nadeln halten und die Wolle gerade perfekt um meinen Finger liegt, ist es viel leichter, der Versuchung zu widerstehen, aufs Smartphone zu schauen – selbst, wenn es vibriert. Ich stricke einfach weiter und weiter und weiter.

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Klaudia Lagozinski
Nachrichtenchefin & CvD
Immer unterwegs. Schreibt meistens über Kultur, Reisen, Wirtschaft und Skandinavien. Meistens auf Deutsch, manchmal auf Englisch und Schwedisch. Seit 2020 bei der taz. Master in Kulturjournalismus, in Berlin und Uppsala studiert. IJP (2023) bei Dagens ETC in Stockholm.
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