Streit um künstliche Befruchtung in Polen: Klerus erpresst In-vitro-Befürworter
Die katholische Kirche drohte Abgeordneten vor einer Abstimmung über künstliche Befruchtung mit der Exkommunikation. Die Entscheidung musste vertagt werden.
WARSCHAU taz | "Katholische Abgeordnete, die sich im Parlament für das In-vitro-Gesetz aussprechen, müssen mit der Exkommunikation rechnen", drohte Warschaus Erzbischof Henryk Hoser. Polen ist das einzige Land in der Europäischen Union, in dem die Befruchtung im Reagenzglas nicht gesetzlich geregelt ist.
So gibt es in ganz Polen Privatkliniken, die im weitgehend rechtsfreien Raum wirken. Niemand weiß, was mit den überzähligen Embryonen geschieht, ob sie eingefroren oder weggeworfen werden, ob mit ihnen gehandelt oder an ihnen geforscht wird. Jeder Versuch, die In-vitro-Befruchtung in Polen gesetzlich zu regeln, scheiterte bislang an der Frage, ob "in vitro" "Leben" bedeutet oder doch eher "Tod".
Nun nahm der Sejm, das polnische Abgeordnetenhaus, einen neuen Anlauf. Abgestimmt werden soll über fünf Gesetzentwürfe. Sie reichen vom Totalverbot bis zum normalen Behandlungsanspruch auf Krankenschein. Einer aktuellen Umfrage des Instituts Homo Homini zufolge würde über die Hälfte der Polen eine künstliche Befruchtung in Betracht ziehen, wenn sich der Kinderwunsch auf natürlichem Wege nicht erfüllen ließe. Auch die meisten Abgeordneten wollen die jetzt schon in Polen praktizierte In-vitro-Behandlung beibehalten, aber den Embryonenschutz erhöhen.
Doch diesmal bezeichneten die Bischöfe die Behandlung unfruchtbarer Paare nicht nur als "besonders raffinierte Form der Abtreibung", sondern gar als "jüngere Schwester der Eugenik". Musste bisher der Teufel im Reagenzglas herhalten, so ist es nun Adolf Hitler persönlich. Bei "in vitro" handle es sich wie bei der Eugenik um eine "angeblich medizinische Maßnahme, die die schlimmsten Assoziationen an eine noch nicht allzu lange zurückliegende Zeit" wecke, meint Erzbischof Józef Michalik, der Vorsitzenden der polnischen Bischofskonferenz in einem Brief an Polens Abgeordnete.
Diese waren entsetzt. Nicht nur, dass die Bischöfe ihnen mit der Exkommunikation drohten, wenn sie nicht im Sinne der katholischen Doktrin abstimmten. Vielmehr sahen sie sich nun auch noch mit dem möglichen Stigma konfrontiert, geistige Nazis und Rassisten zu sein. Die Nazi-Eugeniker wollten die Geburtenrate "arischer" Familien steigern und "lebensunwertes Leben" oder "erblich minderwertiges Leben" verhindern und vernichten. Von 1933 bis 1945 sterilisierten sie rund 360.000 angeblich minderwertige Menschen im Deutschen Reich.
Zwar wies Regierungssprecher Pawel Gras die kirchliche Kritik als "Erpressung" zurück, zwar erinnerte Polens Premier Donald Tusk daran, dass Politiker Rechenschaft gegenüber den Wählern ablegen und nicht gegenüber der Kirchenführung. Doch am Tag der Debatte wagte sich kaum ein Politiker in den Sejm. Die Volksvertreter hatten Angst. Die meisten sind Katholiken, so wie fast alle Polen.
So erreichte die Klarstellung von Medizinprofessor Marian Szamatowicz kaum die Öffentlichkeit. "Bei der In-vitro-Methode werden keine Embryonen getötet. So wie in der Natur entwickeln sich einige Embryonen weiter, andere sterben ab. Das ist keine 'Tötung von Kindern' ", sagte er einer polnischen Tageszeitung. "Bei der natürlichen Befruchtung entwickeln sich auch nur 25 bis 30 Prozent aller Embryonen weiter. Die anderen sterben ab."
Einer medizinischen Statistik zufolge ist jedes fünfte polnische Paar unfruchtbar und wünscht sich trotzdem Kinder. Das sind rund zwei Millionen Männer und Frauen. Nicht alle entscheiden sich für eine Adoption.
Die Abgeordneten standen vor dem Dilemma - den Wählern helfen und den Embryonenschutz verbessern und dafür exkommuniziert zu werden oder der Kirchendoktrin Folge zu leisten und bei den nächsten Wahlen das Mandat zu verlieren. Niemand wollte exkommuniziert werden oder sich als Nazi bezeichnen lassen.
So entschieden die Abgeordneten, erst einmal keine Entscheidung zu treffen. Eine Kommission soll die Gesetzentwürfe noch einmal genauer prüfen. Bis zum nächsten Anlauf der Parlamentarier bleibt bei der In-vitro-Befruchtung in Polen fast alles erlaubt - Forschung, Handel und Adoption von Embryonen. Ob sich dies bei der Radikalkritik der katholischen Kirche je ändert, ist offen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestellerautor will in den Bundestag
Nukleare Drohungen
Angst ist ein lautes Gefühl
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen