Streit um Tradition in Bayern: Sieg für Memminger Fischer-Frau
Gleichberechtigung geht über diskriminierende Tradition, hat ein Memminger Gericht entschieden. Christiane Renz darf nun mit in den Bach springen.
Renzs Vater Karl, ein Memminger Urgestein, sagt draußen vor dem Gericht: „Die Zeit ist vorbei, das müssen die im Verein endlich mal begreifen.“ Und weiter: „Frauen dürfen auch schon lange wählen und müssen nicht mehr den Mann um Erlaubnis fragen, wenn sie arbeiten wollen.“
Es war ein Gerichtsprozess, der in der Allgäuer Stadt hohe Wellen schlug. Eine diskriminierende Vereinstradition oder Gleichberechtigung – was wiegt mehr? Vom Amtsgericht Memmingen hatte Christiane Renz schon 2020 Recht bekommen. Doch der für den Fischertag – ein feucht-fröhliches Feier-Wochenende – zuständige Fischertagsverein wollte das nicht akzeptieren und ging in Berufung.
Der Präsident des Landgerichts, Konrad Beß, hat diesen Prozess gleich selbst an sich genommen. „Ein denkwürdiges Verfahren“ nannte er es. Beß wusste, dass er mit einem Urteilsspruch entweder den Verein mit seiner immensen Bedeutung für Memmingen vor den Kopf stößt – oder die konservativ geprägte Stadt deutschlandweit an den Pranger gestellt wird, in der sogar Gerichte Diskriminierung für zulässig erklären.
Endlich „reinjucken“
Es gebe „keinen sachlichen Grund“, Christiane Renz vom Ausfischen auszuschließen, meint er nun am Mittwoch. Auf die Tradition könne sich der Verein nicht berufen, denn diese wurde im Laufe der Jahre auch an anderer Stelle sehr aufgeweicht. So werden beim Ausfischen etwa kaum mehr traditionelle Kostüme getragen.
Im Prozess wurde Renz unterstützt von der auf Anti-Diskriminierungsverfahren spezialisierten Rechtsanwältin Susanne Bräcklein aus Berlin sowie der „Gesellschaft für Freiheitsrechte“.
Renz hat sich mit einem omnipotenten, mit dem mächtigsten Verein in Memmingen angelegt. Er besitzt 5.000 Mitglieder, und die Organisation und der Ablauf des Fischertags Ende Juli ist ihm eine ernsthafte, ja heilige Aufgabe. 30.000 bis 40.000 Besucher kommen zu dem Fest. Der Verein hat ganze 37 Untergruppen, die für das genau ausgetüftelte Programm zuständig sind. Überall können Frauen mitmachen – nur bisher nicht in der Gruppe der Stadtbachfischer. Das sind jene, die zum Ausfischen in den Stadtbach springen und Forellen fangen. Wer die dickste erwischt, wird Fischerkönig des Jahres – eine unschätzbare Ehre für viele Memminger.
Bis ins Jahr 1465 reicht die Tradition zurück, da war der Stadtbach eine Latrine. Einmal im Jahr wurde das Wasser, eine schmutzige Brühe, abgelassen und der Kanal gereinigt. Um die Fische darin nicht umkommen zu lassen, holte man sie raus. 1900 gründete sich der Fischertagsverein, um die eigentlich unbedeutende Tradition wieder aufleben zu lassen. Und 1932 wurden Frauen per Satzungsänderung vom Ausfischen ausgeschlossen.
Christiane Renz selbst ist 56 Jahre alt und hat seit eh je ihren Wohnsitz in Memmingen. Sie ist schon seit über 30 Jahren Mitglied im Verein. Sie sieht es so: „Das Ausfischen ist der zentrale Teil des Festes.“ Und schon als junges Mädchen wollte sie unbedingt „auch rein jucken“ – so nennen die Memmiger das Hineinspringen. 2022 dürfte ihr Traum Wirklichkeit werden, und womöglich wird sie dann die erste Fischerkönigin in der Vereinsgeschichte. 2020 und 2021 war das Fest wegen Corona abgesagt worden.
Der Vereinschef Michel Ruppert gab sich nach dem Urteil wortkarg. Ausdrücklich lässt das Gericht eine Revision beim Bundesgerichtshof zu. Bestätigt Karlsruhe allerdings die bisherige Rechtsprechung, dann liegt der Verein wohl in Trümmern. Ein Sprecher des Vereins sagte dem Bayerischen Rundfunk (BR) aber ohnehin, dass man das jetzige Urteil akzeptieren werde.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Grünes Wahlprogramm 2025
Wirtschaft vor Klima
Tod des Fahrradaktivisten Natenom
Öffentliche Verhandlung vor Gericht entfällt
Parteiprogramme für die Bundestagswahl
Die Groko ist noch nicht gesetzt
Foltergefängnisse in Syrien
Den Kerker im Kopf