Streit um Kindergrundsicherung: Arme sichern unsere Zukunft
Im Streit über die Kindergrundsicherung werden Vorurteile gegen Arbeitslose geschürt. Dabei brauchen wir wegen der Demografie kinderreiche Familien.
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E igentlich klingt der Begriff so gut, dass niemand was dagegen haben kann: Kindergrundsicherung. Schon vor mehr als 20 Jahren beschworen die Grünen mit diesem Wort eine auskömmliche staatliche Sicherung für Kinder in armen Familien. Doch jetzt droht das Projekt zu einer Enttäuschung zu werden.
Nach der Sommerpause will Bundesfamilienministerin Lisa Paus einen ersten Gesetzentwurf vorlegen und fordert dafür bis zu 12 Milliarden Euro im Jahr an Haushaltsgeldern. Bundesfinanzminister Christian Lindner will höchstens 2 Milliarden Euro für die Digitalisierung der Familienleistungen lockermachen. Man ahnt: Die Erwartungen an die Kindergrundsicherung, die ab 2025 kommen soll, waren zu hoch.
Es soll eine Leistung werden, die das Kindergeld, das Bürgergeld für Kinder und den Kinderzuschlag für arme Erwerbstätige in einer „einfachen, automatisiert berechneten und ausgezahlten Förderleistung bündelt“, wie es im Koalitionsvertrag der Ampel heißt. Im politischen Branding des Begriffs der Kindergrundsicherung liegt dabei eine Ungenauigkeit, die zuerst die Power des Wortes ausmachte, jetzt aber zu Problemen in der praktischen Umsetzung führt.
Dabei ist die Idee eigentlich gut: Mit der Kindergrundsicherung soll das Stigma der Armut verschwinden. In der Kindergrundsicherung sollen das bisherige Kindergeld und die Leistungen für Kinder im Bürgergeld aufgehen. Das Kindergeld heißt dann „Garantiebetrag“ und das bisher gezahlte Bürgergeld für Kinder (Ex-Hartz-IV) ist der „Zusatzbetrag“, den arme Familien zusätzlich zum „Garantiebetrag“ bekommen.
Durch die Unterordnung unter den Begriff der Kindergrundsicherung will man der Stigmatisierung von Familien im Sozialleistungsbezug entgegenwirken. Die Kindergrundsicherung ist auch eine Art Integrationsprojekt zwischen Mittel- und Unterschicht.
Das ist gut gemeint. Nur leider ist es ein quantitativer und systemischer Unterschied, ob eine Familie nur den Garantiebetrag oder eben als arbeitslose Familie ohne Einkommen den Garantiebetrag plus den Zusatzbetrag bekommt.
Letzteres erfordert eine andere Bedarfsrechnung. Zudem ist eine Kindergrundsicherung keine Hilfe für Kinder allein, mit der man sie aus der Armut rettet, sondern eine Sozialleistung, die immer zum Haushaltseinkommen auch der Eltern beiträgt.
Diese systemischen Realitäten kommen jetzt wieder auf den Tisch. Die Union befeuert die Debatte, ob es eine gute Idee ist, armen Familien mehr Geld zu geben, wo es doch am wichtigsten sei, die Eltern in Arbeit zu bringen. Eine Erhöhung der Sozialleistungen sei „ein süßes Gift: Es bringt die Menschen nicht in den Arbeitsmarkt, sondern macht sie abhängiger vom Staat“, sagt der arbeitsmarktpolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, Stephan Stracke, der FAZ.
Da ist er wieder, der Wiedergänger jeder Sozialstaatsdebatte: Die faulen Arbeitslosen, diesmal arbeitslose Eltern, könnten wegen der neuen Sozialleistung die Motivation verlieren, einen Job anzunehmen.
Das Ressentiment wird angeheizt durch die Tatsache, dass der Anteil der deutschstämmigen Familien im Bürgergeld-Bezug in den letzten Jahren zurückgegangen ist. Fast die Hälfte der Kinder im Bürgergeld-Bezug haben eine ausländische Staatsangehörigkeit, viele davon sind Geflüchtete.
Auf der einen Seite sieht man nun die deutschstämmigen Familien in den Mittelschichtmilieus, geplagt durch die Inflation, belastet mit Steuern und Abgaben. Auf der anderen Seite vermutet man die armen Familien mit Migrations- oder Fluchthintergrund, die auf Sozialleistungen angewiesen sind und die durch das Geld vom Staat „verwöhnt“ werden könnten.
Diese Spaltungen sind alte Mythen. Man weiß aus der Erfahrung der nuller Jahre: Wenn Konjunktur und Arbeitsmarkt besser laufen, geht die Arbeitslosigkeit runter. Und Zuwanderer:innen brauchen Zeit, um anzukommen im deutschsprachigen Jobmarkt. Punkt.
Wer Spaltungen vertieft, übersieht, dass wir in anderen Zeiten leben. Familien mit Migrations- oder Fluchthintergrund sind überproportional im Sozialleistungsbezug, weil sie oft mehrere Kinder haben. Anders gesagt: Viele Kinder zu haben kann arm machen. Überdies arbeiten Zuwander:innen oft in schlecht bezahlten Jobs.
Auch viele Kinder zu haben sollte uns angesichts der Demografie mehr wert sein. Die demografische Zukunft in Deutschland, das Angebot an Arbeitskräften in den nächsten Jahrzehnten hängt auch an Familien mit Migrations- und Fluchthintergrund. Wer Ärmere abhängt, tut auch der Mittelschicht nichts Gutes.
Für die Kindergrundsicherung brauchen wir machbare Lösungen und keine neuen Polarisierungen. Wir brauchen Pragmatismus: Die viel beschworene Digitalisierung der verschiedenen Familienleistungen kann erst nach und nach erfolgen, weil sie verwaltungs- und datenschutztechnisch hochkomplex ist.
Schon kleinere Vereinfachungen etwa der Antrags- und Abrechnungsverfahren für Leistungen im Bildungs- und Teilhabepaket wären hilfreich. Würde man das Portal im Internet für die Anträge auf den Kinderzuschlag für erwerbstätige Eltern erweitern, indem man es in mehreren Fremdsprachen anbietet, wäre schon was gewonnen. Mehr Sprachförderung und Kinderbetreuung müssen her.
Etwas mehr Geld sollte es auch geben. Man könnte die pauschalen Leistungen für Bildung und Teilhabe erhöhen, die derzeit nur bei 15 Euro im Monat liegen. Davon lässt sich kein Musikunterricht bezahlen.
Das Projekt der Kindergrundsicherung muss auf machbare Schritte heruntergebrochen werden. Dann lässt sich vielleicht die Hauptbotschaft vermitteln. Es geht um eine Zukunft, in der es kein soziales Risiko mehr ist, Kinder zu haben. Und kein Stigma, wenn man sie alleine nicht finanzieren kann.
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