Streit in Jüdischer Gemeinde Berlin: Religionsgemeinschaften dürfen diskriminieren
Im Streit um eine diskriminierende Wahlordnung in der Jüdischen Gemeinde hat das Landgericht eine Klage abgewiesen. Grundrechte seien nicht anwendbar.
Lala und Artur Süsskind sind Urgesteine der Berliner jüdischen Gemeinde. Die heute 78-jährige Lala Süsskind führte von 2008 bis 2012 den Gemeindevorsitz. Zur letzten Gemeindewahl im September 2023 wollte sie dann erneut antreten. Denn schon seit Jahren rumort es unter dem Vorstand Gideon Joffe. Von einem „Klima der Angst“ ist die Rede und von undemokratischen Zuständen. In der Folge sanken die Mitgliederzahlen von knapp 12.000 auf etwas mehr als 8.000.
Das Fass zum Überlaufen brachte eine kurz vor der letzten Gemeindewahl im Mai 2023 erlassene neue Wahlordnung. Die sah einschneidende Änderungen vor: So durften Personen über 70 Jahren nicht mehr kandidieren – also auch Lala Süsskind. Und ehemalige Mitarbeiter der Gemeinde erst nach zwei Wahlperioden, also nach zwölf Jahren. Verwehrt wurde eine Kandidatur überdies Amts- und Mandatsträgern anderer jüdischer Organisationen, etwa des Zentralrats, der Jewish Claims Conference oder des Sportvereins TuS Makkabi.
Das unabhängige Gericht beim Zentralrat der Juden in Deutschland forderte die Berliner Gemeinde im Sommer 2023 auf, die Wahlordnung zurückzunehmen. Als das nicht geschah, verbot das Gericht die Wahl. Was die Gemeinde jedoch nicht davon abhielt, sie trotzdem durchzuführen – gegen den scharfen Protest etlicher Mitglieder.
Der Zentralrat erkannte die Wahl nicht an
Joffes Partei wurde zum unangefochtenen Wahlsieger. Der Zentralrat erkannte diese Wahl jedoch nicht an. Als Konsequenz wurde der Berliner Gemeinde zunächst für ein Jahr das Stimmrecht in den Gremien des Zentralrats entzogen.
Lala Süsskind klagte daraufhin gegen die Wahl. Weil gesetzliche Diskriminierungsverbote hier nicht anwendbar seien, wies der vorsitzende Richter Gerhard Pfannkuche die Klage am Dienstag zurück: „Die Religionsgemeinschaften sind nicht an das Grundrecht gebunden“, so Pfannkuche. In die interne Organisation von Religionsgemeinschaften greife man nicht ein.
„Kleines Pjöngjang in Berlin-Mitte“
Die im Staatskirchenrecht verankerten weitreichenden Autonomierechte religiöser Gemeinschaften findet Nathan Gelbart, Anwalt der Süsskinds, im Prinzip richtig. Problematisch sei jedoch, wenn Gemeinden daraus einen Freibrief ableiten und gegen Grundrechte verstoßen. „Herr Joffe kann jetzt sein kleines Pjöngjang in Berlin-Mitte aufrechterhalten und weiter demokratische Grundrechte mit Füßen treten“, so Gelbart.
Einen kleinen Teilerfolg konnte er dennoch erzielen: Die Jüdische Gemeinde hatte argumentiert, dass in Fragen der Wahlordnung ausschließlich das gemeindeeigene Schiedsgericht zuständig ist. Alles andere wäre ein schwerer Eingriff in die religiöse Autonomie der Jüdischen Gemeinschaft. Das Landgericht Berlin hält den Gang vor ein staatliches Gericht jedoch grundsätzlich für zulässig. Nur in diesem Fall sehe man keine Grundlage, in die internen Gemeindebelange einzugreifen.
Das Urteil kann den Konflikt nicht beenden
In der Jüdischen Gemeinde ist die Freude über das Urteil groß. „Sollten noch Zweifel zur Rechtmäßigkeit der Gemeindewahlen oder der Wahlordnung bestanden haben, dann dürften diese nun vollkommen ausgeräumt sein“, hieß es am Dienstag. „Wir reichen der Opposition unsere Hand zur konstruktiven Zusammenarbeit.“ Auch der Zentralrat der Juden in Deutschland solle nun sein Verhältnis zur Jüdischen Gemeinde zu Berlin „neu überdenken“.
Beendet ist der Konflikt mit dem Urteil nicht. Ohne eine Wiederholung der Wahl droht nach wie vor der vorübergehende Ausschluss aus den Gremien des Zentralrates. Es wäre ein einmaliger Vorgang. Die mit 14,7 Millionen Euro per Staatsvertrag finanzierte Berliner Gemeinde ficht all die – nicht zuletzt aus dem Senat – wiederholt vorgebrachte Kritik indes nicht an. Sie kann sich durch das heutige Urteil bestärkt sehen.
Lala und Artur Süsskind, die auch stellvertretend für andere gemeindeinterne Kritiker vor Gericht zogen, überlegen nun, die Gemeinde, der sie seit Jahrzehnten angehören, die sie mitgestaltet und mitgetragen haben, zu verlassen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Merz will Straftätern Pass entziehen
Heimat ist bedingungslos
Anklage gegen Linke Maja T. erhoben
Ungarn droht mit jahrelanger Haft
Erneuerbare Energien
Die bizarre Aversion der AfD
Grünen-Pläne zur Krankenversicherung
Ohne Schutzschild aus der Deckung
Polizeigewalt beim AfD-Parteitag
Unverhältnismäßig und unnötig
Streit um Bezeichnung
Gericht verbietet Aldi Süd Verkauf seiner Dubai-Schokolade