Straßenprostitution in Berlin: Unruhiges Wohnen im Alter
In einem Seniorenwohnhaus im Schöneberger Norden wehren sich Bewohner gegen Eindringlinge und Prostitution im Haus. Und haben trotzdem Verständnis.
Jäger (70) und Gärtner (84) sind Mieter in dem Eckhaus in Schöneberg Nord. Das Seniorenwohnhaus mit rund 180 Ein- und Zweizimmerwohnungen steht mitten in dem Kiez, der seit Jahrzehnten Zentrum der Berliner Straßenprostitution ist. Um Mieter in dem einstigen Wohnheim werden zu können, muss man über 60 Jahre alt sein und einen Wohnberechtigungsschein haben.
Viele Bewohner seien körperlich eingeschränkt, einige litten an Demenz, erzählt Jäger. Auch er, früher Gewerkschaftssekretär, ist auf einen Rollstuhl angewiesen. Gärtner, Bibliothekarin im Ruhestand, nutzt einen Rollator. Sonst ist das Gespann aber ziemlich rüstig. Jäger und Gärtner sind das Gesicht eines aus 10 bis 12 Aktivisten bestehenden Mieterteams, das die Verhältnisse nicht auf sich beruhen lassen will.
Seit Jahren schon ist der Straßenstrich rund um das Haus von einer Mischung aus Armutsprostitution, Zuhälterei, Drogenabhängigkeit und Obdachlosigkeit gekennzeichnet. Viele der Prostituierten, die hier arbeiten, kommen aus Osteuropa. Aufgrund des Baubooms, der eine wohlsituierte Mittelschicht in das Quartier geführt hat, gibt es für diese Klientel kaum noch Nischen, geschweige denn Unterschlupfmöglichkeiten. Selbst die Müllanlagen der umstehenden Wohnhäusern sind inzwischen verriegelt. Die Folge: Das Elend verdichtet sich und konzentriert sich auf Bereiche, wo die Bewohnerschaft schwach ist.
Verstörende Bilder
Die Szenen, die sich nicht erst seit gestern in dem Seniorenhaus abspielen, dokumentiert Erich Jäger auf einem Videoblog. Die Bilder zeigen Menschen, die auf Treppenabsätzen und in aufgebrochenen Kellerverschlägen schlafen, benutztes Drogen-Spritzbesteck, blutverschmierte Taschentücher, manipulierte Steckdosen, an denen Handys aufgeladen werden, Urinlachen, Kleiderhaufen, Zigarettenkippen und Müll.
Die Bilder verstören, auch ob ihrer Privatheit. Die Gesichter hat Jäger zumeist unkenntlich gemacht. Es ist nicht der Anblick purer Verwahrlosung. So, wie die Menschen aussehen, könnten sie auch am nächsten Tag zur Arbeit gehen, ohne dass man merken würde, wo sie die Nacht verbracht haben. Eine Schlafende hat auf der Treppenstufe neben sich eine Tube Zahnpasta aufgestellt.
Auch zum Geschlechtsverkehr würden Flure und Keller genutzt erzählen Jäger und Gärtner. In früheren Jahren sei das auch schon vorgekommen, auch, dass mal jemand in eine Ecke geschissen habe. Aber seit Beginn der Pandemie sei es extrem geworden. Auf Druck der Mieter habe die Gewobag ein paar Monate lang einen Sicherheitsdienst beauftragt. Der Dienst sei aber Anfang Mai aus Kostengründen eingestellt worden. Wenn sie morgens die Wohnungstür öffne, liege davor manchmal ein Mensch, erzählt Gärtner: „Das macht mir Angst.“ Im Haus stinke es wie in einer ungepflegten öffentlichen Toilette. Auch die regelmäßige Reinigung ändere daran nichts.
Früher war das Seniorenhaus ein richtiges Heim mit angeschlossener Pflegestation. Lange, schlecht ausgeleuchtete Flure zeugen davon. Das Gebäude ist verwinkelt und unübersichtlich, von der Straße aus gibt es drei verschiedene Eingänge. Durch Manipulation und Zerstörung der Türen gelinge es Außenstehenden immer wieder, Zugang zu bekommen, sagt Jäger. „Und wenn einer drin ist, rufen ihn die anderen über Handy an, dass er aufmacht.“ Vermutlich werde auch ausgenutzt, dass demente Hausbewohner den Türöffner betätigten.
Nichts gegen Sexarbeit
Jäger lebt seit sieben Jahren in dem Haus, Gärtner seit 2017. Er denke gar nicht daran, klein beizugeben, sagt Jäger. Er habe nichts gegen Sexarbeit, und er gehöre auch nicht zu den Leuten, die nach einem Prostitutions-Sperrbezirk riefen. „Die Frauen tun mir leid“, sagt Gärtner. Auf eine Art könne sie verstehen, dass die Frauen mit den Freiern „lieber zum Bumsen“ in das Seniorenhaus gingen: „Die Bioklos sind doch eklig und entwürdigend.“
Fünf Bioklos gibt es im Kiez. Aufgestellt wurden sie auf Veranlassung der Bezirksämter von Mitte und Tempelhof-Schöneberg. Die Holzhäuschen dienen gleichzeitig als Klo und als sogenannte Verrichtungsboxen.
Bezirksbürgermeisterin Angelika Schöttler bestätigte am Freitag auf Nachfrage, dass das Seniorenhaus mit dieser Problemlage ziemlich alleine da stehe. „Ich habe sonst keine derartigen Beschwerden vorliegen, wie sie von den Anwohnenden der Gewobag an mich heran getragen werden.“ Sie sei aber bereits „durchaus aktiv“ geworden, so Schöttler. „Im Rahmen der bezirklichen Möglichkeiten“ habe sie die Streetwork in dem Gebiet intensiviert, mit sozialen Trägern das Gespräch gesucht und mit der Polizei über die aktuelle Situation gesprochen. „Gleichwohl enden unsere staatlichen Möglichkeiten an der Haustür der Gewobag“, so Schöttler. Aber auch da habe sie konkrete Verbesserungsvorschläge gemacht.
Sicherheitsdienst abgelehnt
Eine Sprecherin der Gewobag ließ am Freitag gegenüber der taz wissen, Türen und Kellerfenster in dem Objekt würden regelmäßig repariert. Eine hellere Beleuchtung der Flure sowie Bewegungsmelder an den Hoftüren seien geplant. Die Haustürschließung sei bereits auf ein Chipsystem umgestellt worden. „Um eine dauerhafte Sicherheit unserer MieterInnen zu gewährleisten, sind wir jedoch auf ihre Unterstützung angewiesen.“ Soll heißen: Es sind auch die Mieter selbst, die Fremde ins Haus lassen.
Eine Fortsetzung des Sicherheitsdienstes, wie es Jäger und Gärtner fordern, lehnt die Gewobag ab. Der erprobte Service habe nicht den gewünschten Erfolg erzielt und sei auch zu kostenintensiv, heißt es. Zudem seien die Problem dadurch in andere Häuser verlagert worden.
Fazit der Gewobag: „Wir sehen uns hier als landeseigenes Wohnungsbauunternehmen nicht in der alleinigen Verantwortung, zumal unser Bestand von der Situation im Kiez beeinflusst wird.“ Durch die Pandemie und fehlende Rückzugsorte im öffentlichen Raum hätten sich die Probleme im Wohnumfeld noch verstärkt. Hier sehe man das Bezirksamt in der Pflicht.
Am 11. August wird sich der Quartierstrat Schöneberg Nord mit dem Haus beschäftigen. „Vielleicht gibt uns die Tatsache, dass Wahlen sind, ja ein bisschen Rückenwind,“ hofft Jäger.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen