Straßenmusiker über strenge Regeln: „Du wirst da kriminalisiert“
Als Boxer scheiterte Dirk Schäfer an der Stasi. Und schon zu DDR-Zeiten stand er in Schwerin mit seiner Gitarre auf der Straße. Da befindet er sich heute noch.
taz am wochenende: Herr Schäfer, als gebürtiger Mecklenburger bin ich öfter in Schwerin und kenne Sie seit vielen Jahren als Straßenmusiker aus der Einkaufsstraße in der Altstadt. Wie lange machen Sie das schon?
Dirk Schäfer: Wir sollten uns duzen! Schon seit 1985. Zu DDR-Zeiten habe ich angefangen, auf der Straße Musik zu spielen. Ich wollte gerne Musik machen, hatte aber keine Band. Ich wohnte damals nicht in Schwerin, hab hier aber im Mecklenburgischen Staatstheater als Bühnentechniker gearbeitet. Ich musste mit der Bahn fahren, und so kam es, dass ich öfter mal in einem Wartehäuschen saß und die Gitarre dabeihatte und anfing zu spielen. Hier gleich um die Ecke, am Leninplatz …
… der heute Marienplatz heißt.
An der Straßenbahnhaltestelle stiegen die Leute aus und blieben stehen. So fing das an.
Ich dachte ja immer, Straßenmusik in der DDR, um davon leben zu können, gab es nicht.
Nö, zu DDR-Zeiten haben wir dafür kein Geld gekriegt. Aber für die Auftritte. Ich habe immer mal mit einer Band gespielt oder als Roadie gearbeitet. Da gab es Geld im „Haus der Jugend“, 1978 war ich da engagiert und hatte meinen ersten bezahlten Auftritt. Seit der Wende verdiene ich mein Geld damit. Ich krieg nichts vom Staat.
Du willst auch nichts vom Staat?
Der Mensch
Dirk Schäfer wurde 1961 in Halberstadt (Sachsen-Anhalt) geboren und zog als Kind mit der Familie nach Schwerin. Er hat seinen Stammplatz vor einem Kaufhaus in der Fußgängerzone in der Altstadt. Privates gibt er eher ungern preis.
Das Boxen
Schon als Kind begann er mit dem Boxtraining, bereits sein Vater boxte. Der Sportclub Traktor Schwerin hat zu DDR-Zeiten etliche auch international erfolgreiche Boxer hervorgebracht. Schäfer war zweimal DDR-Meister im Bantamgewicht und galt als eines der größten Talente des Landes. Doch kurz vor seiner Qualifizierung zur Weltmeisterschaft 1982 in München endete seine Karriere jäh. Auch darüber spricht Schäfer heute nicht gern. Er wurde von der Staatssicherheit überwacht, seine Kontakte zu Kirchenkreisen waren dem Staat ein Dorn im Auge. Der Boxer wurde aus seinem Klub verbannt. (heg)
Alles zu kompliziert.
Du bist jeden Tag hier, oder? Du gehst quasi auf Schicht …
Natürlich, das ist eine Schicht. Leider dürfen wir hier in Schwerin immer nur eine Stunde spielen.
Wieso das denn?
Hier oben (er zeigt mit der Hand in Richtung gegenüberliegenden Häuserfront) gibt es Büros, da halten es einige Leute scheinbar nicht aus, wenn es den ganzen Tag Straßenmusik zu hören gibt. Dass man das nicht immer aushält, verstehe ich ja. Nur noch eine Stunde am Stück, das ist bekloppt. Und immer nur zu festen Zeiten. Um zehn Uhr geht es los, und um halb acht abends darfst du kein Lied mehr spielen!
Wie arbeitest du also?
Ich kann ab 10 Uhr eine Stunde spielen – bis 11 Uhr. Dann muss ich eine Stunde Pause einlegen. Dann geht es wieder von 12 bis 13 Uhr, von 14 bis 15 Uhr und so weiter. Die zwingen uns, nur zu den geraden Uhrzeiten zu spielen. Ob es regnet oder nicht … (Das Gespräch findet ab 11 Uhr in seiner „Pause“ statt)
Mir scheint das arg reglementiert!
Ehrlich, so verbauen sie mir ja meinen Lebensweg. Und allen anderen Musikern auch, die hier spielen.
Was für Lieder spielst du zu Gitarre und Mundharmonika?
Alles, was ich nachempfinden kann. Eine Weile hab ich Elvis gespielt … bis man die Texte vergisst und dann traurig darüber ist, dass man ein Lied verloren hat, das schön war. Durch solche Regelungen mit den Spielzeiten, auch durch die neuen Lebensumstände: zwei Jahre nicht normal spielen können durch Corona.
Was ist mit Bob Dylan, hab ich den vorhin gehört?
Der ist eine andere Nummer. Ich habe ihn gesehen. Ich habe ihn gehört. Und ich habe über ihn und von ihm gelesen. Wenn ich mich mit einem Künstler beschäftige, muss ich schon wissen, was er gemacht hat, für was er steht. Und die Songs haben mir gefallen, die ich gehört habe. Ich konnte es damals als ganz junger Mensch, in den Siebzigern, wahrscheinlich noch nicht zuordnen, wer jetzt Bob Dylan war. Damals waren doch eher Elvis und die Beatles angesagt, und Blues. Später dann die Stones, von denen ich beeindruckt war. So eine Band hätte ich auch gerne gehabt, mit der man so loszieht wie eine Piratenbande. Das hat was, so was Freies.
Du bist freischaffend und ein Freigeist. Was …
Das Gespräch wird unterbrochen, ein Passant spricht Dirk Schäfer an: „Guten Morgen, Dirki! Was geht bei dir?“ – „Gute Frage“, antwortet Dirk Schäfer. Es folgt ein kurzer Wortwechsel und ein „Hau rein!“, und weiter geht ’s mit dem Interview.
Jetzt hab ich den Faden verloren. Aber sag mal, weil wir ja im Norden sind: Plattdeutsche Seemannslieder oder so singst du nicht, oder?
Doch, hab ich auch schon. Ich hab auch schon „Sah ein Knab ein Röslein stehn“ gespielt. Aber ob ich das heute so gut hinkriegen würde, wie ich es damals hinbekommen habe, das bezweifele ich. Ein tolles Lied, natürlich. Ich hatte mal ein Repertoire, wo ich davon ausgehen konnte, damit über den ganzen Tag zu kommen. Wenn man den ganzen Tag Musik macht, möchte man ja nicht dreimal hintereinander dasselbe Lied spielen. Ich probiere auch mehrere Versionen aus, mal ein Walzer, mal Moll, mal Dur. Das kann man ja alles machen, es macht mir auch Spaß, aber …
Aber?
Aber auf Dauer ist es nicht kreativ, was die Verantwortlichen hier mit den Künstlern machen. Jetzt sind auch gute Leute aus der Ukraine in der Stadt. Einer zum Beispiel steht mit seinem Akkordeon da, er lebt jetzt in Schwerin und kämpft sich durch. Der hat’s auch nicht einfach. Der steht auf der Straße und spielt Weltklasse! Für die Straße ist der viel zu gut.
Die merkwürdige Regelung, immer nur eine Stunde lang Straßenmusik machen zu dürfen, gibt es in Schwerin seit 2016.
Vor allem wirst du kriminalisiert und musst noch Bußgeld bezahlen.
Davon hab ich in der Schweriner Volkszeitung gelesen. Dir wurde Haft angedroht, wenn du das Bußgeld nicht zahlen würdest.
Zuerst habe ich gestanden, und dann habe ich gesessen. Und zum Schluss habe ich gesungen.
Im Ernst: Warst du deswegen im Knast?
Nein, das nicht. Ich war während der Armeezeit im Knast. Aber nicht wegen Singen. Das war wegen Befehlsverweigerung. Aber das Bußgeld habe ich nicht bezahlt. Ich kam vor Gericht und wurde freigesprochen.
Das Gespräch wird wieder unterbrochen, diesmal macht Dirk Schäfer ein bekanntes Gesicht unter den Passanten aus. „Herr Sellering, das ist aber klasse, der Ministerpräsident! Wollte mal Hallo sagen.“ – „Ja hallo“, sagt Erwin Sellering, „Sie haben ja gut Schatten hier.“ Dirk Schäfer bittet den ehemaligen Ministerpräsidenten von Mecklenburg-Vorpommern, ein gutes Wort bei den Stadtvertretern einzulegen wegen der Straßenmusikregelung, die er kurz erklärt. „Das ist doch traurig“, sagt Dirk Schäfer. „Das ist traurig“, gibt Sellering ihm recht und sagt: „Ich rede mal mit dem Bürgermeister.“ – „Da wäre ich Ihnen sehr zu Dank verpflichtet!“
In Schwerin kennt so ziemlich jeder jeden!?
Wenn James Brown oder Jimi Hendrix hier vorbeikämen, denen würde ich auch Hallo sagen. Es gibt viele, die mich nicht kennen, jetzt so persönlich, mich aber schon mal gesehen oder gehört haben. Klar kenne ich viele Leute, auch bekannte, aber das hänge ich nicht an die große Glocke.
Du arbeitest von Montag bis Freitag, oder wie stelle ich mir das vor?
Weil meine Zeit hier begrenzt ist, muss ich natürlich morgens schon hier sein. Und dann ziehe ich es durch. Zehn Stunden. Auch samstags. Ich bin Alleinunterhalter, sagen wir so. Ich kann ja mal einen spielen? (Stimmt die Gitarre nach und spielt ein Lied und wieder klingelt sein Handy.)
Du hast von deiner Frau erzählt. Seid ihr verheiratet?
Das ist mir jetzt ein bisschen zu persönlich … (überlegt kurz) Wir haben eine Fete gemacht und uns das Jawort gegeben, aber keine große Sache daraus gemacht. Wir teilen und helfen uns gegenseitig.
In welcher Ecke von Schwerin wohnt ihr?
Das wird doch nicht verraten!
Dann nicht! Ich frag ja nur, weil ich Schwerin kenne. Dann frage ich das: Wo bist du geboren?
In Halberstadt. Ach, das ist eine Geschichte, die geht weit zurück. 1976 kam ich nach Schwerin. Mit 15 Jahren, an die KJS, die Kinder- und Jugendsportschule. Aber ich will da jetzt nicht weiter drüber reden.
Das ist okay. Wenn man googelt, findet man ja die Details deiner Geschichte aus DDR-Zeiten, dass du geboxt hast und die Stasi Spitzel auf dich angesetzt hatte. Das hat auch meine Kollegen interessiert.
Interessant ist doch auch, warum man Musiker wird?
Sag mir, warum.
Bei mir war es so: Ich habe zwar geboxt, aber ich konnte nicht verstehen, warum die sich manchmal geprügelt haben. Aber wenn in der Disco Musik vom Plattenteller lief, und die machten auf einmal einen Kreis und fingen alle auf einmal an, bei Deep Purple oder Queen zu „We will rock you“ zu tanzen, dann hab ich gedacht, oh, Mann, du musst Musik machen. Das war einer der Gründe. Geld zu verdienen war nicht der Grund.
Wie alt warst du da?
Da war ich so 17. Und Elvis war natürlich auch so eine Art Vorbild. Ein Entertainer, der alles verinnerlichte, Rock und auch Chanson, der sehr viel Herz reingelegt hat, ihm lief der Schweiß nur so. Da siehst du, dass das harte Arbeit ist. Und man sollte genügend Ehrfurcht mitbringen. Wenn man covert, bringt man ja Ehrfurcht mit. Und dann kann die Musik vielleicht berühren. Dann könnte Musik die Welt vielleicht besser machen. Heutzutage wird ja so viel Hass erzeugt, weil die Leute in den Social Media anonym bleiben können. Es wäre ja schlimm, wenn man sich nur damit beschäftigen müsste. Mir hat mal einer gesagt: Das Einfache ist das Gute. Warum machen wir es dann so kompliziert?
So wie du, du spielst ja ohne Verstärker nur mit deiner Gitarre.
(Er spielt ein paar Takte) Was könnte ich jetzt spielen? Einen Blues?
DDR-Songs spielst du gar nicht?
(Spielt weiter, geht auf die Frage nicht ein, spielt …)
Wenn du ein paar Jahre im Auto wohnst, in einem Auto ohne Heizung und später in einem größerem Auto mit Heizung …
Hier in Schwerin oder auch woanders?
Ja, dadurch war ich natürlich auch woanders. Ich war in Norwegen, in Italien, in vielen Ländern und hab da immer Musik gemacht auf der Straße. Am weitesten weg war Mexiko, sechs Wochen lang.
Was bedeutet dir die Musik? Ginge es auch ohne?
Man wird irgendwann berührt. Dann hört man eine Weile zu, dann beschäftigt man sich damit. Dann geht man diesen Weg und hört nicht mehr auf, diesen Weg zu gehen.
Also in Rente wirst du nicht gehen?
Hole ich mir schon, wenn ich eine brauche. Vielleicht geben sie mir sogar eine …
Wo waren die Leute am offensten?
Überall auf der Welt! Auch hier sind sie offen.
Die störrischen Mecklenburger?
Die sind nicht störrisch. (Wieder gibt es Geld für Dirk Schäfer und eine Pause, der Autor geht dem Musikanten ein Bier kaufen).
Wie viel verdienst du denn?
Wenn die Stammkundschaft nicht wäre, wäre es echt traurig. Ich würde ja gern viel mehr spielen. Okay, vielleicht würde ich jetzt auch eine Pause machen, weil gerade Mittagsflaute ist. Aber die Zeitvorgaben zwingen mich jetzt zum Spielen, auch wenn hier kein Mensch langgeht, verstehst du das? Das ist doch nicht normal. Früher hat sich hier kein Mensch beschwert, weil es gegenüber eine Kneipe gab. Da hast du Musik gespielt, wenn es gepasst hat. Jetzt musst du kämpfen in der Zeit, in Konkurrenz zur gleichen Zeit mit den anderen Straßenmusikern. Nur weil einer da oben im Büro das nicht ertragen kann? Dann sollen sie das Fenster doch zumachen.
Am Theater zu bleiben, wo du in den 1980ern ja mal gearbeitet hast, war damals keine Option? Das Theater ist doch so eine Art Oase der Freigeister in Schwerin.
Das war mal … Die Wahrheit ist: Ich bin betrunken zur Arbeit gekommen. Ach, scheiße. Weil ich Probleme hatte mit meiner Frau, mit der ich die Kinder habe. Und als ich nach Schwerin 1985 wieder zurückkam, lag ja eine Art Odyssee hinter mir. Ich war bei der Armee, zwischendurch auf der DHfK (der Deutschen Hochschule für Körperkultur) in Leipzig, hab dann in Berlin noch mal geboxt, Meisterschaft im Federgewicht. Weißt du, Wolfgang Behrendt war der erste Olympiasieger überhaupt für die DDR, 1956 in Melbourne, Australien – im Bantamgewicht. Wolfgang Behrendt spielt Trompete, lebt noch und ist fürs Neue Deutschland Journalist. Und hat damals über mich geschrieben: „Schäfer wieder der Alte, nach zweieinhalb Jahren weg vom Fenster“. Man kann ja schnell rauskommen, wenn man nicht richtig trainiert.
Du hast bei Traktor Schwerin trainiert. Boxer aus Schwerin waren damals echt eine Hausnummer. Guckst du dir noch Boxwettkämpfe an?
Ja, mache ich auch, aber ich habe viel mit der Musik zu tun, und da ist man abends auch kaputt, da geht man nicht aus, wenn man am nächsten Tag in der Früh wieder da sein will.
Der Dom läutet, es ist 12 Uhr, jetzt dürftest du wieder spielen?
Jetzt könnte ich wieder spielen.
Jetzt muss ich aber doch noch mal fragen, auch wenn du sagtest, dass du eigentlich keine Lust dazu hast. Aber du hast das Boxen eben selbst angesprochen. Du wärst ja fast einmal, 1982 war das, zur WM gefahren. Die Stasi hat dir aber Knüppel zwischen die Beine gelegt.
Es stand fest, dass ich eh nicht mehr fahre. Und außerdem war ich im Training so verletzt, dass die Kopfverletzung, die ich hatte, genäht werden musste. Da hatte sich das erledigt. Die wollten aber, dass ich trotzdem noch ins Trainingslager fahre als Sparringspartner. Da sind wir dann noch zu einem anderen Arzt gegangen und der hat gesagt: „Nein, geht nicht“… Und ich selbst hab gar nicht mitgekriegt, dass ich beobachtet werde.
Wie viele Jahre hast du geboxt?
Ja, wie lange war das jetzt …? Ich habe 1966 angefangen und 1984 aufgehört.
Als kleines Kind hast du schon angefangen mit Boxen?
Na ja, klar. Meinen ersten Kampf hatte ich hier in der Schweriner Kongresshalle, dass muss wohl 1968 oder 1969 gewesen sein, als Vorkämpfer. Wurde unentschieden gewertet.
Wenn du vom Boxen erzählst, merkt man, dass du mit dem Herzen bei der Sache dabei warst, oder?
Na ja, wenn du von klein auf an dabei bist und wenn dein eigener Vater Boxer bei Traktor Schwerin war, in den 1960ern, wo zu Wettkämpfen 20.000 Leute in die Freilichtbühne kamen. (Ein Paketbote kommt vorbei, man kennt sich, es entspinnt sich kurz ein Gespräch über – Norwegen – und noch einen Elvis-Song hinterher)
Du schnackst echt mit allen Leuten und gibst einen Spruch zum Besten.
Tja, man ist hier manchmal auch Sozialarbeiter.
Und das Ordnungsamt?
Die sollen mich nach 35 Jahren oder wie lange ich hier das schon mache, endlich mal in Ruhe lassen. Ich will hier nämlich wirklich nur Musik machen. Ich will keinen Ärger. Du kannst nur den Frieden bringen, wenn du selbst der Friede bist.
Das ist doch ein schöner Schlusssatz fürs Gespräch.
Komm, ich spiel zum Abschluss noch „Born to be wild“.
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