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Straße durch AmazonienDie Spur des Asphalts

Im Herzen des brasilianischen Regenwaldes wird der Ausbau der Schnellstraße BR-319 zur globalen Klimafalle. Das hat auch Auswirkungen in Deutschland.

Auf 400 Kilometern Länge im mittleren Abschnitt ist die BR-319 noch eine Sandpiste voller Schlaglöcher Foto: Puré Juma

MANAUS taz | Am Tag nach Weihnachten steige ich in Humaitá in den Bus. Die Stadt liegt fast 700 Kilometer von Manaus entfernt, der Hauptstadt Amazoniens. Wir sind tief im Süden des brasilianischen Bundesstaates Amazonas – in einer Region, die als „Arco de desmatamento“, als Bogen der Entwaldung, bekannt ist und Jahr für Jahr unter den Folgen von Landraub, illegalem Bergbau und Waldzerstörung leidet.

Die Fahrt nach Manaus dauert 24 Stunden in einem Überlandbus, der über den roten Schlamm der BR-319 holpert – einer fast tausend Kilometer langen „Schnellstraße“, die durch das Herz des brasilianischen Amazonaswaldes führt und überwiegend eine schlichte Sandpiste voller Schlaglöcher ist. In der Nähe des Flusses Curuçá ist die Brücke komplett zerstört. Wir müssen den Fluss mit einer provisorischen Fähre überqueren – die Passagiere auf der einen Seite, der Bus auf der anderen.

Green Panter Amazonia

Der Text ist im Rahmen des Klimaworkshops Green Panter Amazonia der taz Panter Stiftung entstanden. Mehr Texte der Teilnehmenden aus 8 Ländern der Amazonas-Region auf taz.de. Weitere ihrer Artikel erscheinen am 12. 9. in einer taz-Beilage, am 17. 9. gibt es einen Talk mit ihnen in der taz Kantine.

Ich bin hier, um zu verstehen, wie ein während der Militärdiktatur gebautes, Ende der 1980er Jahre aufgegebenes und nun wiederbelebtes Straßenprojekt zu einem der Treiber des Klimawandels auf unserem Planeten werden konnte.

Während die nördlichen und südlichen Enden der Straße asphaltiert sind, ist der 400 km lange mittlere Abschnitt immer noch eine ungeteerte Piste – und ihr geplanter Ausbau Gegenstand rechtlicher Streitigkeiten. In Erwartung des Projekts haben Abholzung und Brände aber bereits zugenommen.

Amazoniens wichtige Rolle für das Weltklima

Schon im Jahr 2024 hatten Satellitendaten von Copernicus und brasilianischen Wissenschaftlern gezeigt, dass der südliche Amazonas in der Nähe der BR-319 während der Brandsaison zwischenzeitlich sogar zur weltweit größten Quelle von Treibhausgasen geworden war.

Halt im Nirgendwo: Von Humaitá bis Manaus ist es ein 24-Stunden-Trip Foto: Cley Medeiros

Da die Amazonas-Region eine wesentliche Rolle bei der Regulierung des Weltklimas spielt, wirken sich klimatische Veränderungen vor Ort direkt auf das Wetter in anderen Regionen aus, darunter auch Europa. Selbst wenn solch unmittelbare klimatische Zusammenhänge wissenschaftlich schwer zu beweisen sind, steht außer Frage, dass Extremwettereignisse auch in Deutschland zugenommen haben.

Die Deutsche Gisela Puschmann kennt den Regenwald Brasiliens von mehreren Besuchen gut. Ich habe sie über Freunde kennengelernt. Sie berichtet davon, wie sich die klimatischen Bedingungen in Deutschland verändert haben. Die frühere Anwältin und Pädagogin sagt, dass sich zum Beispiel die vier Jahreszeiten nicht mehr so klar abgrenzen ließen wie früher. „Ich kann mich an so etwas aus meiner Kindheit nicht erinnern.“

Als das kleine deutsche Städtchen Schleiden-Gemünd in der Nähe des Ahrtals in den frühen Morgenstunden des 14. auf den 15. Juli 2021 von einer gewaltigen Flutkatastrophe heimgesucht wurde, die ganze Häuser wegriss, gehörten Puschmann und ihr Mann zu den Freiwilligen, die in den Tagen nach der Tragödie den Überlebenden halfen.

In Deutschland nehmen extreme Niederschläge zu

Nach der Katastrophe waren der Deutsche Wetterdienst (DWD) und die Weltorganisation für Meteorologie in ihren Schlussfolgerungen eindeutig: Die Zunahme extremer Niederschläge in Deutschland hängt mit der sich verschärfenden Klimakrise zusammen. Was einst Ausnahmeereignisse waren, ist heute ein Symptom für ein aus dem Gleichgewicht geratenes System. Mit mindestens 180 Toten und Tausenden Obdachlosen gilt die Ahrtal-Katastrophe als eine der größten Naturkatastrophen in der jüngeren Geschichte Deutschlands.

„In den letzten zehn Jahren hatten wir Sommer mit immer höheren Temperaturen und einem immensen Mangel an Regen. Wenn es regnet, dann sind es oft sintflutartige Stürme“, berichtet Puschmann – ein Wetterphänomen, das sich inzwischen in jedem Sommer zu wiederholen scheint.

Brandspuren, erst kürzlich abgeholzte Flächen, auf denen sich Baumstämme stapeln, und provisorische Schilder mit der Aufschrift Privatgrundstück zieren die Straßenränder

Dennoch interessiert die Klimakrise die deutsche Öffentlichkeit erstaunlicherweise weniger als noch vor einigen Jahren. Im Jahr 2022 betrachtete etwa ein Drittel der deutschen Bevölkerung das Klima als nationale Priorität. Im Jahr 2024 sank dieser Anteil laut einer Umfrage der Alliance of Democracies Foundation auf nur unter ein Viertel. Derweil gönnt sich die Klimakrise keine Auszeit – und was 10.000 Kilometer von Berlin entfernt im Amazonas-Regenwald geschieht, trägt mit dazu bei, dass Ausnahmewetter zur neuen Klimanorm in Europa wird.

Das Erreichen eines Kipppunktes wird wahrscheinlicher

Während meiner Reise über die BR-319 sehe ich aus nächster Nähe, wie die Aktivitäten rund um die Straße zunehmen: Holztransporter und Lastwagen mit Waren für die Freihandelszone Manaus fahren jetzt nur wenige Meter vom Bus entfernt im Schritttempo vorbei. Brandspuren zieren die Straßenränder, an einigen Stellen sind erst kürzlich abgeholzte Flächen zu sehen, auf denen sich Baumstämme stapeln, und daneben provisorische Schilder mit der Aufschrift „Privatgrundstück“.

Die menschlichen Aktivitäten rund um die BR-319 nehmen bereits zu, doch der Bundespolizei fehlen Ressourcen für eine Überwachung Foto: Puré Juma

Lucas Ferrante, einer der führenden Forscher für die Amazonasregion von der Universität des Bundesstaates Amazonas, sagt, dass der Amazonas-Regenwald einer der wichtigsten Kohlenstoffspeicher der Erde sei. Noch. Denn mit der andauernden Abholzung entlang der BR-319 könnte er diese Funktion verlieren. Das macht das Erreichen eines Kipppunkts wahrscheinlicher, der lokale thermische Veränderungen mit voraussichtlich globalen Auswirkungen zur Folge hätte. „Das könnte das Leben in Städten wie Manaus unmöglich machen“, sagt Ferrante.

Er kritisiert auch die vorgenommenen Umweltstudien – unter anderem, dass endemische Amphibien darin falsch eingestuft wurden, darunter in der Region Purus-Madeira, einer der artenreichsten Gebiete des Amazonas. Ferrante fordert stärkeren Schutz der Artenvielfalt sowie Investitionen in regionale Wasserwege.

Es gäbe zwar einen Plan namens „BR-319 Sustentável“, also „nachhaltige BR-319“, der strengere Kontrollen und Überwachungsmaßnahmen vorsehe, doch Ferrante zweifelt an dessen Wirksamkeit. Das Bundes-Umweltamt IBAMA und die Bundespolizei verfügen zudem nicht über ausreichende Ressourcen, und selbst die Autobahnpolizei räumt ein, dass sie die Kontrollpunkte nicht vollständig besetzen kann.

Der Ausbau der BR-319 kostet 360 Millionen US-Dollar

Nach Angaben des Nationalen Ministeriums für Verkehrsinfrastruktur (DNIT) wird der Ausbau des rund 400 Kilometer langen mittleren Straßenabschnitts rund 360 Millionen US-Dollar kosten. Dazu kommen noch regelmäßige Instandsetzungskosten. Für Marcelo Rodrigues, den Geschäftsführer der BR-319-Beobachtungsstelle, werden grundlegende Voraussetzungen für den Straßenausbau nicht erfüllt. „Die Asphaltierung der Straße garantiert nicht, dass die Menschen in den umliegenden Gebieten Zugang zu Gesundheitsversorgung oder Bildung haben.“ Denn dies falle in andere staatliche Zuständigkeitsbereiche. „Es müssen erst die Voraussetzungen für den Ausbau geschaffen werden“, erklärt Marcelo Rodrigues.

Auch indigene Territorien sind von der BR-319 betroffen. Zwischen Humaitá und Manaus durchquert die Straße Gebiete, die traditionell von indigenen Völkern der Tenharim, Pirahã, Juma, Diahui, Munduruku und Mura bewohnt werden.

Historikerin Márcia Mura berichtet von illegaler Landnahme und Landkonflikten Foto: Atatuyky Mura

Die Historikerin Márcia Mura von der Universität von São Paulo (USP) kritisiert, dass seit der Eröffnung der BR-319 Mura-Gebiete besetzt und Dörfer von der Landkarte getilgt wurden. Schon während des Kautschukbooms zwischen 1879 und 1912 waren viele Mura gewaltsam vertrieben worden, und ihre indigene Identität ist im Laufe der Jahre weitgehend verloren gegangen. Unter der Militärdiktatur von 1964 bis 1985 verschärfte der Bau der BR-319 schließlich illegale Landnahme und Landkonflikte. Doch bis heute leisten Gemeinden wie Nazaré und Cuniã Widerstand.

Wissenschaft wird diskreditiert, Umweltpolitik delegitimiert

Die Auseinandersetzung um die BR-319 hat auch den Kongress erreicht, wo Umweltministerin Marina Silva wegen ihrer Ablehnung des Ausbaus angefeindet wird. Sie will die Straße unter staatliche Kontrolle stellen und die betroffenen indigenen Völker vorab anhören. Im Kongress wird sie dafür von rechtsextremen Politikern beschuldigt, „den Fortschritt zu behindern“ – eine Rhetorik, mit denen rechte Netzwerke ihre Anhänger in den sozialen Medien mobilisieren.

Gisela Puschmann, die in Deutschland Workshops gegen Rechtsextremismus und Desinformation durchführt, sieht eine gefährliche Parallele zwischen Klimaleugnung und autoritärer Rhetorik. „Diese Gruppen leugnen die Klimakrise und propagieren eine autoritäre Weltanschauung. Brasilien ist kein Einzelfall – wir stehen in Europa vor derselben Herausforderung“, sagt sie.

Brasiliens Entscheidungen im Bereich der Infrastruktur stellen einen kritischen Klimatest dar – und die Zeit für einen Kurswechsel wird knapp

Für Puschmann folgen Angriffe auf Umweltaktivisten wie Marina Silva einem globalen Muster: Wissenschaft diskreditieren, abweichende Meinungen delegitimieren und Empörung instrumentalisieren. Das mache die extreme Rechte in Brasilien ebenso wie die AfD in Deutschland, die ebenfalls versuche, Umweltpolitik zu delegitimieren.

Deutschland gehört zu den Ländern, die regelmäßig in den Amazonas-Fonds einzahlen, und hat über das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) und die staatliche KfW bereits mehr als 65 Millionen Euro für den Waldschutz bereitgestellt. Ein Teil dieser Mittel fließt in das „Schutzgebiete Amazonas“-Programm (ARPA), das geschützte Gebiete in sensiblen Bereichen wie der Umgebung der BR-319 unterstützt.

Auf dem Weg in den ökologischen Kollaps?

In der Praxis hat die deutsche Unterstützung Maßnahmen gegen Abholzung, für Umweltüberwachung und technische Schulungen für Manager und lokale Akteure ermöglicht, die sich für den Erhalt des Regenwaldes einsetzen. Angesichts der Größe Amazoniens und der wenigen Zeit, die verbleibt, das Erreichen eines Kipppunkts zu vermeiden, dürfte diese Hilfe aber nicht ausreichen.

Als der Bus nach einer langen Fahrt Manaus endlich erreicht, frage ich mich, welche Zukunft die BR-319 wohl haben wird. Ohne strenge Umweltschutzmaßnahmen könnte der Ausbau der Straße den ökologischen Kollaps des Amazonasgebiets beschleunigen. Brasiliens Entscheidungen im Bereich der Infrastruktur stellen nun einen kritischen Klimatest dar – und die Zeit für einen Kurswechsel wird knapp.

Cley Medeiros ist ein brasilianischer Journalist. Er arbeitet für die Tageszeitung A Crítica in Manaus.

Übersetzt aus dem Portugiesischen von Ole Schulz

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