Stimmen vom Tahrir-Platz: Die Revolutionäre sind ratlos
Junge ÄgypterInnen stehen vor den Scherben ihrer demokratischen Hoffnungen. Die Aufbruchsstimmung ist verflogen.
BERLIN taz | Die Ereignisse haben sich überschlagen in Ägypten in der letzten Woche. Am Montagmorgen sind auch viele junge AktivistInnen vor allem eins: überfordert. Schaima, eine junge, gebildete Frau, bei der Revolution vom ersten Augenblick beteiligt, winkt müde ab: „Ich kann nichts sagen. Es ist zu früh, wir wissen nicht, was passiert.“
Viele ihrer Freunde haben seit einer Woche kaum geschlafen, „wie in alten Tagen“, sagt sie. Doch die Aufbruchstimmung jener Tage, als die Armee Präsident Mohammed Mursi stürzte, ist verflogen. Anfangs wandten sich vor allem junge Leute noch vehement auf Plakaten und im Internet an Europäer und Amerikaner und erklärten: Das war kein Putsch, das war eine Revolution. Hört auf, uns Demokratie beibringen zu wollen! Millionen auf der Straße – das ist mehr Demokratie, als zur Wahl zu gehen und abzuwarten.
Auch jetzt trauert Mursi niemand nach. In dem einen Jahr seiner Regierung habe er keines seiner Wahlversprechen umgesetzt, sagen seine Kritiker. Er sei nur damit beschäftig gewesen, sich und seinen Vertrauten mehr Macht zu verschaffen, während die Wirtschaft weiter zusammenbrach, der Strom ausfiel und die Leute stundenlang für Benzin anstanden.
Zunächst gab es vielerorts Jubel für die Armee, auf den Straßen und im Internet: als die Soldaten etwa radikale islamische Prediger verhafteten oder deren Fernsehstationen schlossen. Dass sich jetzt auch jene freuten, die im Jahr zuvor nach dem Sturz von Expräsident Mubarak gegen die Allmacht des Militärrats kämpften, hat mit dem Machtwechsel in der Armee zu tun: Die greisen Generäle, die damals den Militärrat leiteten, dankten ab, und mit Abdel Fatah al-Sisi hat eine neue, junge Generation nun das Sagen im Militär.
Eingestellte Verfahren
Die Offiziere, die einst wegen ihrer Teilnahme an Protesten in Militärhaft kamen, wurden freigelassen. Als eine der ersten Maßnahmen hat die neue Militärherrschaft vergangene Woche Verfahren gegen bekannte Blogger einstellen lassen.
Mit den Muslimbrüdern haben die jungen Protestierenden wenig Mitleid. Stattdessen herrscht weitgehend Einigkeit: Die Muslimbrüder seien Terroristen. Die Massenvergewaltigungen von Frauen in den letzten Monaten gehen, so meinen manche, ebenso auf das Konto der Muslimbrüder wie die Angriffe auf den Tahrirplatz und auf Gegner im ganzen Land.
„Als das Militär in Maspiro mit Panzern über die Menschen gefahren ist und sich die Leichen getürmt haben, haben die Muslimbrüder kein Wort dazu gesagt“, schreibt die Bloggerin Salma Said in Anspielung auf Vorfälle der vergangenen Jahre.
Doch nun, da die Videos durchs Netz gehen, wie Scharfschützen des Militärs auf Demonstranten schießen, haben viele das Gefühl, wieder zwischen zwei mächtigen Gruppen zerrieben zu werden.
Ahmed, der ebenfalls an der Revolution beteiligt war, ist ebenso ratlos wie die meisten anderen, die verfolgen, wie Ägypten immer mehr ins Chaos driftet: „Ich bin dagegen, dass die Armee Menschen erschießt, selbst wenn ich gegen die Muslimbrüder bin. Das darf nicht sein. Die einen sagen, die Armee hat geschossen, die anderen sagen, die Muslimbrüder haben geschossen, wieder andere, radikale Islamisten hätten auf beide geschossen. Ich weiß es nicht. Ich bin gegen beide. Gegen die Armee, gegen die Muslimbrüder.“
Leser*innenkommentare
Marco
Gast
@Wolfgang
ja der Kommunismus hat doch vieles mit den Buchreligionen Christentum und Islam gemeinsam
Wolfgang
Gast
Zu: @ "Roberta S."
"Kommunismus" als Gesellschaftsformation hat es bis heute noch nicht gegeben.
Hierfür müsste mann/frau sich schon ernsthaft demokratisch emanzipieren, und die kapitalistisch-imperialistische Welt überwinden und aufheben, - einschließlich der dauerhaften Beseitigung der bestehenden (a)"sozialen Marktwirtschaft" der "Sozialpartner" der real herrschenden Finanz-, Rohstoff-, Rüstungs- und Monopolbourgeoisien! - So, auch in Deutschland und EU-Europa, das Kapital, revolutionär-emanzipatorisch überwinden und aufheben!
Info.-Empfehlung:
"Das Kapital" von Karl Marx und das "Kommunistische Manifest" von K. Marx und Friedrich Engels.
Roberta S.
Gast
@ REalist
Dummerweise sorgt die Uraltkrake - auch wenn man vielleicht lieber anders hätte - fürs Einkommen.
Die Systemfrage zu stellen ist müßig, ist ist eine Realität zu der es keine Alternative zu geben scheint, wenn man nicht Nah-Ost-verhältnisse will.
Denn selbst unter sehr dirigitischen (oder gerade dort wie man im Kommunismus gesehen hat)entwickelt sich wirtschaft kaum, wenn es nicht gerade reichhaltige Bodenschätze gibt.
Man sollte sich nun mal realitisch sein, unter welchen bedingungen man das beste hinbnekommt - sich aber nicht mit Träumereien. Es zeigt sich ja auch in Ägypten, dass es fast ein Leichtes war, Mursi zu stürzen, aber das es eben auch stabilisierende Alternativen geben und vor allem eine sich entwickelende Wirtschaft geben muss.
tom
Gast
"Die greisen Generäle, die damals den Militärrat leiteten, dankten ab…" Hä!? Wie jetzt? Vor einem Jahr klang das so: "Ägyptens Präsident hat die Generäle in die Wüste geschickt. Für das Land am Nil ist die politische Entmachtung der Militärführung das wohl wichtigste Ereignis seit dem Sturz des alten Regimes - und kann gar nicht überbewertet werden: Erstmals in der neueren Geschichte des Landes hat ein ziviles Staatsoberhaupt offen eine Entscheidung gegen das Militär getroffen.
Der gewählte Präsident Mohammed Mursi versetzte Verteidigungsminister Mohammed al-Tantawi und Stabschef Sami Anan am Wochenende in den Ruhestand. Der mutige Befreiungsschlag kam für die wohl meisten Ägypter überraschend, denn bislang schienen diese beiden grauen Eminenzen die wahren und damit unantastbaren Machthaber des Landes zu sein."
https://www.taz.de/Entmachtung-des-Militaerrats-in-Aegypten/!99504/
Bewegung
Gast
Das Problem aller Länder in denen es momentan auf diese Weise gärt (Ägypten, Turkei etc.),ist dass einem aufgeklärten Teil der Bevölkerung, große Massen von Leuten gegenüber stehen, die geistig noch im finstersten Mittelalter verhaftet sind. Ob sie in sog. demokratischen Prozessen wirklich die immer wieder beschworene Mehrheit darstellen, ist schwer zu sagen, da hier auch Priester, Fanatiker und nicht zuletzt die westlichen Mächte ihr Süppchen kochen. Aber spielt das wirklich eine Rolle?? Wenn hier ein Regime übernehmen würde, das seine frauen- und lebensfeindliche Ideologie zur allein gültigen erklärt, würde ich es als mein demokratisches Recht betrachten, dagegen vorzugehen, selbst wenn es von irgendeiner ominösen Mehrheit gewählt worden wäre. Das Demokratie-Argument zieht nur solange, wie sich die gewähltr Regierung an demokratische Spielregeln hält.
REalist
Gast
Militär als demokratische Regierung ist ein Wiederspruch in sich und wird nicht gut enden.
Warum immer nur Marionetten, wie in Deutschland, oder irgendwelche anderen Diktatoren? Wann entwickeln wir Menschen uns mal soweit fort, das wir uns (das Volk) selber in unserem Sinne (und nicht der Eliten), regieren können?
Technisch macht die Menschheit riesen Fortschritte, aber politisch denken wir noch wie in der Steinzeit. Ebenso halten wir blind an der uralt-Krake des Kapitalismus fest, anstatt mal über menschlichere und umweltverträglichere Alternativen nachzudenken.
Gruß
Franz