Stimmen aus dem syrischen Idlib: „Wohin soll ich gehen?“

Ungewissheit, Angst, Fluchtpläne: So gehen Zivilisten in Idlib mit den syrisch-russischen Drohungen um, die Region anzugreifen.

Demonstranten in Idlib

Protest gegen die erwartete Militäroffensive der syrischen Armee auf Idlib Foto: dpa

Hassan Tabajo (27): „Ich werde fliehen“

Der Elektrotechniker floh aus Ost-Ghuta, das im Frühjahr dieses Jahres von Regimetruppen erobert wurde. Er lebt in Idlib-Stadt und arbeitet als Trainer für Datensicherheit.

Die Situation in Idlib ist angespannt. Wir wissen nicht genau, was der Plan des Regimes ist. Will es Idlib komplett zurück oder nur Teile davon?

Die Lebensbedingungen in Idlib sind trotzdem normal. Die Schulen haben geöffnet, Waren sind verfügbar, die Preise bewegen sich im Rahmen des Akzeptablen.

Die syrische Regierung hat Samstag zusammen mit ihrem Verbündeten Russland Menschenrechtlern zufolge die schwersten Luftangriffe auf die Rebellenprovinz Idlib seit einem Monat geflogen. Mindestens vier Zivilisten seien getötet worden, darunter zwei Kinder, berichtete die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte am Samstag. Die Provinz sei von etwa 80 Bombardements getroffen worden. (dpa)

Wegen der hohen Bevölkerungsdichte stehen die Krankenhäuser aber unter Druck. Behandlungen sind sehr teuer. Meine Mutter braucht neue Gelenke, sie sagten mir, dass mich die Operation 4.000 US-Dollar kosten würde.

Wenn irgendetwas darauf hinweist, dass die Schlacht beginnt, nehme ich meine Familie und gehe in die Gebiete, die de facto unter türkischer Kontrolle stehen: Afrin, Aazaz, Dscharabulus. Dort ist es sicher. Ich will nicht noch einmal Krieg erleben.

Die Lage hier ist anders als in Ghuta. Die Flucht ist einfacher, weil Idlib ein großes Gebiet ist. Ghuta war klein und wurde belagert. Ich leide noch unter einem Trauma.

Hassan Tabajo

Hassan Tabajo Foto: privat

Ich will in meinem Land bleiben, aber wenn ich das Geräusch eines Flugzeuges oder eine Explosion höre, sehe ich all diese Szenen wieder vor mir. Sieben Jahre in Ghuta waren genug. Ich möchte nicht, dass sich das Massaker wiederholt. Ghuta hat mich zu einem schwachen Menschen gemacht.

Das einzige, was ich besitze, sind meine Tasche und meine Mutter. Ich werde sie mitnehmen und fliehen.

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Muawiya Abu Hussein (22): „Schulen werden das Ziel sein“

Abu Hussein arbeitet als Lehrer an einer Grundschule in Idlib-Stadt.

„Ich weiß nicht, was ich machen soll, wenn in Idlib etwas passiert. Ich bin verantwortlich für die Familie und muss eine Lösung finden. Ich denke darüber nach, ins nördliche Umland von Aleppo zu gehen, um dort einen sicheren Ort für meine Familie zu finden. Aber ich warte ab, was passiert, weil ich meine Schüler liebe. Sie sind wie meine Kinder und haben viel Zeit verloren. Ihr Bildungsniveau ist zur Zeit nicht gut.

Die Schule, an der ich arbeitete, wurde von russischen und syrischen Flugzeugen bombardiert. Deshalb habe ich an eine andere Schule gewechselt. Es gibt keine Maßnahmen zum Schutz der Schüler im Falle einer Bombardierung.

Muawiya Abu Hussein

Muawiya Abu Hussein Foto: privat

Den Schülern geht es psychisch schlecht, denn ihre Zukunft ist ungewiss. Mit Sicherheit werden die Bombardierungen die Schulen zum Ziel haben, d.h. dass die Schüler nicht mehr lernen können. Hinzu kommt, dass Unterstützung fehlt, um die zerstörten Schulen wieder aufzubauen.

Ich lebe in heftiger Angst und einem dauernden Zustand des Abwartens. Gleichzeitig muss ich mich zusammenreißen und vor den Schülern stark sein.

Ich lebe mit meiner Familie in Idlib. Unsere Wohnung wurde von Fassbomben getroffen. Wir sind nur mit Schwierigkeit aus den Trümmern heraus gekommen. Jetzt leben wir in einer anderen Wohnung unter schwierigen Lebensbedingungen.

Wir sind kriegsmüde und haben haben die Angst satt. Viele Leute sind in sichere Länder geflohen. Ich kann das nicht, weil ich nicht genug Geld habe. Deshalb bleibe ich hier, bis ich sterbe oder bis der Krieg vorbei ist.

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Suad Jaber* (50): „Alle Grenzübergänge sind geschlossen“

Suad Jaber arbeitet für eine humanitäre Organisation in den Flüchtlingslagern an der syrisch-türkischen Grenze. Sie lebt in Atmeh.

„Wir wissen nicht, ob wir gehen sollen oder nicht. Die Türkei lässt die Menschen nicht hinein, alle Grenzübergänge sind geschlossen. Uns bleibt kein anderer Ort als das Gebiet unter türkischer Kontrolle. Aber wird es dort sicher bleiben? Wir wissen es nicht.

Suad Jaber

Suad Jaber Foto: privat

Wenn wir uns entscheiden zu gehen, haben wir keine andere Wahl, als bei bei unseren Verwandten in anderen Orten zu bleiben. Ich habe Angst um meine Familie und meine Freunde. Wenn die Armee das Gebiet betritt, kann es sein, dass sie alle jungen Leute verhaftet oder tötet.

Einige Familien hier leben vom Nötigsten. Es gibt viele Witwen und Waisenkinder, die ihre Ehemänner und ihre Familien verloren haben, außerdem Alte und Menschen mit besonderen Bedürfnissen. Diese Menschen leben momentan in Frieden, aber wie werden sie leben, wenn der Krieg wieder ausbricht? Es ist wirklich tragisch!

Ich hoffe, dass die Welt uns hört, mich und alle anderen Frauen in Idlib. Ich hoffe, dass die Politiker und die internationalen Menschenrechtsorganisationen uns hören. Ich bitte alle, uns zu beschützen, bevor es zu spät, damit es nicht zu einem neuen Massaker kommt.“

* Der Name wurde auf Wunsch geändert.

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Saleh al-Aql (31): „Ich wüsste nicht, wohin ich gehen soll“

Seit fünf Jahren arbeitet al-Aql für eine humanitäre Organisation in Idlib-Stadt. Er kommt aus Kafranbel.

„Ich weiß nicht, ob der drohende Vormarsch ein Gerücht oder eine Tatsache ist. Ich halte ihn für ein Gerücht. Ich bin zu 90 Prozent sicher, dass das nur psychologische Kriegsführung ist. Ich glaube nicht, dass die internationale Gemeinschaft dies zulassen wird.

Ich arbeite täglich mit Kindern. Sie werden ihrer grundlegendsten Rechte beraubt: in Frieden und Sicherheit zu leben, zu lernen und zu spielen. Dass Kinder um ihre Bildung beraubt wurden, ist das Schlimmste, was in diesem Krieg passiert ist. Vor etwa sechs Jahren hörten Kinder auf, zur Schule zu gehen – in den meisten Fällen wegen der Sicherheitslage.

Saleh al-Aql

Saleh al-Aql Foto: privat

Weil Schulen beschossen wurden, haben Eltern Angst, ihre Kinder wieder zur Schule zu schicken. Wir haben eine ganze Generation, die im Krieg aufgewachsen ist, ohne Bildung.

In Idlib leben wir seit vier Monaten unter einer Waffenruhe, nachdem wir lange Zeit unter Bombardement und Zusammenstößen gelebt haben. Jetzt gibt es wieder Leben in Idlib, die Leute beginnen mit dem Wiederaufbau, die Kinder fangen an, in die Schulen zurückzukehren. Wir wollen nicht wieder im Krieg leben.

Ich wüsste nicht, wohin ich gehen soll, wenn so was passiert. Denn wenn die Armee von Baschar al-Assad in Idlib eindringt, dann wären meiner Meinung nach auch die türkischen Gebiete unter seiner Kontrolle.“

(Protokolle: Hiba Obaid, Übersetzung aus dem Arabischen: Hiba Obaid, Jannis Hagmann)

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