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Stimmen aus Syrien„Unsere Gefühle sind ausgelöscht“

Im Kampf um die Provinz Idlib spitzt sich der Krieg in Syrien zu. Wie aber geht es den Menschen vor Ort? Fünf SyrerInnen erzählen.

Bild der Zerstörung: Idlib Mitte Februar Foto: Muhammed Said/Anadolu Agency/picture alliance

Der Elektroingenieur Muhammed Barakat (34) sucht nahe der türkischen Grenze Schutz.

„Meine Heimatstadt Orem al-Kubra ist wegen der Bombenangriffe, die das syrische Regime mit seinen Verbündeten aus Russland und dem Iran ausübt, jetzt menschenleer. Sie bombardieren die Stadt aus der Luft, mit Raketenwerfern und Artillerie. Schulen und Krankenhäuser wurden ins Visier genommen und viele Häuser wurden wahllos beschossen. Vor der Bombardierung war die Stadt voll von Binnenvertriebenen aus den Nachbardörfern. Jetzt hat sie sich in eine Geisterstadt verwandelt.

Ich habe versucht zu bleiben, aber die Situation war schlimm, ich konnte nicht bleiben. Das Regime hat die Kontrolle über viele Ortschaften in Idlib übernommen und führt immer noch heftige Angriffe durch, um die Region zu kontrollieren. Jetzt lebe ich seit einer Woche in der Nähe von Harim.

Die Zahl der Menschen, die auf der Straße oder in Zelten leben, ist groß. Kein leerer Platz, keine leere Straße ist mehr zu finden. Alle fliehen aus den Bombengebieten in die noch sicheren Gegenden. Es ist unvorstellbar für den menschlichen Verstand, was hier passiert. Die Temperaturen gehen bis –5 Grad runter. Es gibt keine warmen Orte für die Kinder. Einige Menschen, die nicht an den Bombenangriffen gestorben sind, sterben vor Kälte. Ich habe viele Mütter weinen sehen, während sie ihre Kinder auf ihren Händen trugen und zehn Kilometer zu Fuß liefen, um den Bombenangriffen zu entkommen. Die Leute sind geflohen, ohne etwas mitzunehmen. Die meisten hatten nicht das Geld, um ihr Eigentum herauszuschaffen. Sie konnte sich keine Taxis leisten.

Ich habe Angst, dass dieser Angriff noch länger dauert. Dass er wegen der vielen Zivilisten zu einem Blutbad führt. Die Grenzen sind zu und das System verleibt sich die Dörfer ein. Ich bin vor einem Jahr nach Serbien gereist und nach Idlib zurückgekehrt. Ich habe dort viele Europäer getroffen und glaube immer noch an die Menschlichkeit des europäische Volks. Worauf warten Sie noch? Treffen Sie eine Entscheidung, üben Sie Druck aus und retten Sie uns vor weiteren Verbrechen!“ Protokoll: Hiba Obaid; Übersetzung: Jannis Hagmann

„Ich bitte die Leser dieses Textes, auf die Straße zu gehen“

Fatima Haj Mousa (26), Journalistin aus Dschabal al-Sawija, musste mehrfach flüchten, um zu überleben.

„Zurzeit habe ich keinen festen Wohnsitz. Ich habe in Atarib im westlichen Umland von Aleppo gelebt, aber als das Gebiet bombardiert wurde, verließen wir es. Seither ziehen wir von einem Ort zum anderen. Jetzt versuche ich gemeinsam mit vielen jungen Leuten, die für humanitäre Organisationen arbeiten, Menschen aus den bombardierten Gebieten herauszuholen. Aber es sind viele, und es gibt nicht genug Zelte oder Häuser. Die meisten Menschen leben im Freien.

Ich selbst lebe in einem ständigen Zustand der Verwirrung, weil ich nicht weiß, was als Nächstes passieren wird. Dem Schicksal ausgeliefert zu sein ist beängstigend. Wir besitzen nichts, wir haben unser Zuhause, unsere Erinnerungen und viele unserer Liebsten verloren. Was wir am meisten fürchten, sind die internationalen Abkommen, die uns aus unseren Häusern und aus unserer Heimatregion vertreiben könnten. Es sind Vereinbarungen, die auf unseren Körpern durchgesetzt werden. Wir sind hier in Idlib. Menschen sterben durch Kälte oder Bombardement, und die Welt rührt keinen Finger. In den Lagern sterben täglich Kinder vor Kälte. Dabei sind die kalten Lager noch ein Traum für Familien, die unter noch extremeren Bedingungen leben.

Ich bitte die Leser dieses Textes, auf die Straße zu gehen, etwas Stärke zu beweisen und den Rest dessen zu retten, was von uns übrig ist. Bitte stoppen Sie diese humanitäre Katastrophe, stoppen Sie das Blutvergießen! Wir wollen bloß in Sicherheit in unserem Land Syrien leben. Wir wollen, dass unsere Kinder lernen, spielen, die Bedeutung des Lebens kennenlernen. Bitte übermitteln Sie unsere Botschaft an all diejenigen, die die Entscheidungen treffen. Die Lösung in Syrien kommt nicht von innen heraus, sondern bedarf einer internationalen Einigung.“ Protokoll: Hiba Obaid; Übersetzung: Jannis Hagmann

„Obwohl es Lebensmittel gibt, verstecken die Menschen Waren“

Lina Ali* (28), Lehrerin, lebt in Aleppo. Die Stadt wurde von Assad-Truppen zurückerobert. Trotzdem ist sie erleichtert, jetzt in Sicherheit zu sein.

„Alles, was momentan zählt, ist, dass wir sicher sind. Dass wir schlafen, ohne an Beschuss und Bombardierung zu denken. Das ist ein Gefühl, das wir lange nicht mehr gehabt haben. Unser Haus befand sich früher in der Nähe der Gebiete, in denen die Bomben fielen. Ich hatte solche Angst, dass ich das Haus nicht mehr verlassen habe. Viele Freunde gingen weg, ohne dass ich sie verabschieden konnte. Jetzt versuchen die Menschen, in alte Zeiten zurückzukehren. Aber eine ständige Angst vor dem Unbekannten hat sich breitgemacht. Wir haben das Gefühl, dass sich alles jeden Moment ändern kann.

Bild der Verzweiflung: Menschen verlassen Idlib mit ihrem Hab und Gut Foto: Khalil Ashawi/reuters

Ich kann Menschen, die sich über die Kontrolle des Regimes freuen, nicht verurteilen. Sie betrachten die Dinge nicht nur politisch. Sie denken über ihre Häuser und ihren Besitz nach. Unser Leben dreht sich jetzt um Strom, Wasser und Preise. Das sind unsere Sorgen.

Wir können zum Beispiel nicht mehrere Geräte gleichzeitig betreiben, weil ständig der Strom rationiert wird. Und die Preise sind unmöglich, auch wenn sich Aleppo nicht mehr in einem Belagerungszustand befindet. Ein Kilo Tomaten kostete früher 50 Pfund, jetzt sind es rund 600. Ich lebe mit meiner Familie zusammen. Obwohl wir alle als Angestellte arbeiten, übersteigt das Gehalt 130 S-Dollar nicht. Das ist auf dem aktuellen Markt sehr wenig. Und obwohl es Lebensmittel gibt, verstecken die Menschen Waren – eine Reaktion auf all das, was passiert ist. Sie leben in einem permanenten Angstzustand.

Unsere Gefühle sind ausgelöscht. Selbst unsere persönlichen Träume beschäftigen uns kaum noch. Heiraten, Kinder bekommen, einen Abschluss machen, einen Job finden – all das spielt keine Rolle mehr. Ist das nur eine Depression oder ist es das Ergebnis dessen, was passiert ist? Ich weiß es nicht. Allgemein herrscht Chaos, aber die Gesichter der Menschen auf den Straßen haben sich entspannt. Vielleicht liegt das am Gefühl der Sicherheit. Für sie steht das über allem anderen.“ Protokoll: Hiba Obaid; Übersetzung: Jannis Hagmann

* Name von der Redaktion geändert

„Das syrische Volk wird vor den Augen aller Welt getötet“

Mohammed Schakurdi (29) lebt in seiner menschenleeren Heimatstadt Atarib. Erst wenn die besetzt wird, will er fliehen.

„Es gibt kein Leben mehr in Atarib. Das Regime ist auf eine Entfernung von fünf Kilometern vorgerückt. Die Bombardierung durch russische Kampfflugzeuge, der Hass auf Zivilisten sowie der jüngste Vormarsch des Regimes haben es unmöglich gemacht, hier zu leben. Die Leute haben Angst vor Rache an den Bewohnern der Stadt, die seit neun Jahren gegen das Regime auf die Straße gehen.

Wiederkehrendes Bild: Eine Familie flieht Mitte Februar aus Idlib Foto: ap

Sollten die Regimetruppen in die Stadt eindringen, werde ich natürlich fliehen. Ich werde in Nordidlib nach einer Mietwohnung suchen und dorthin umziehen, bis sich die Lage entspannt. Als das Regime in die Dörfer in Ostidlib eindrang, zeigte sich ihr Hass, zum Beispiel gab es Grabschändungen.

Ich befürchte, dass das Regime auch in Atarib eindringen und es besetzen wird. Das wird dazu führen, dass dieses kriminelle Regime sich dort fest installieren wird und wir nicht mehr zurückkehren können. Dann würde kein Ort übrig bleiben, an dem die syrische Revolution weiterlebt.

Ich fordere die Europäer auf, Druck auf ihre Regierungen auszuüben, bis eine Flugverbotszone zum Schutz der Zivilbevölkerung verhängt wird. Hilfslieferungen, Zeltlager oder sonst irgendetwas nutzen nichts, solange nicht eine Schutzzone errichtet wird. Das syrische Volk wird in Idlib vor den Augen aller Welt getötet, ohne dass etwas geschieht. Die Völker haben Angst vor dem terroristischen Russland, das die Kampagne zur Auslöschung des revolutionären syrischen Volkes anführt.“ Protokoll und Übersetzung: Jannis Hagmann

„Die Gefahr kommt aus allen Richtungen“

Hanin al-Sayed (27), Medienschaffende, ist nach Nordidlib geflüchtet. In ihrer Heimat hat sie Proteste gegen Assad organisiert. Nun fürchtet sie den Vormarsch seiner Truppen.

„Ich komme aus Ma’aret Hurma, was sehr nahe an den Gebieten liegt, die von den Streitkräften des syrischen Regimes unter Kontrolle gebracht worden sind. Ich habe das Gebiet vor zehn Monaten verlassen und lebe jetzt in Dana nahe der syrisch-türkischen Grenze. Ich habe mein Haus verlassen, nachdem das Gebiet vom Regime bombardiert wurde. Die Flucht war schwierig, weil es keine Lastwagen gab. Also gingen wir nach und nach: ich und meine Geschwister zuerst, dann mein Vater und meine Mutter.

Ich war Studentin an der Universität von Aleppo und war eine der Organisatoren friedlicher Demonstrationen gegen das Regime. Mit Worten kann ich meine Gefühle heute nicht beschreiben. Wir haben alles aufgegeben. In nur zwei Jahren musste ich in mehr als zehn Wohnungen Zuflucht nehmen. Ich konnte meine Sachen nicht mitnehmen. Jedes Mal, wenn wir in ein neues Haus gehen, werfe ich alles weg.

Ich habe Angst vor dem Vormarsch der syrischen Armee, Angst um meine Familie und meine Geschwister. Ich weiß nicht, was wir tun, wenn sie näher kommt. Ich habe keinen anderen Plan, als mit meinem Verlobten in die Türkei zu fliehen. Denn die Gefahr kommt aus allen Richtungen, nicht nur vom Regime, sondern auch von islamistischen Gruppen wie Ahrar al-Scham. Mein Verlobter und ich müssen jetzt so schnell wie möglich heiraten, damit wir zusammen reisen können. Wir müssen viel Geld bezahlen, um in die Türkei zu reisen, aber wir haben keine Alternative.

Ich vertraue weder irgendeiner oppositionellen Gruppe noch dem Regime. Wir leben in Gefahr, es drohen Massaker. Wir Zivilisten und Aktivisten wollen immer noch ein freies Leben. Wir hatten mit all diesen islamistischen Gruppen nicht gerechnet und wollten die Revolution nicht mit religiösen Ideen vermischen. Aber hört irgendjemand unsere Stimmen? Unsere einzige Schuld ist, dass wir ein anständiges Leben wollten. Wir haben die Universität als Studenten verlassen, um Nein zu sagen zu Ungerechtigkeit und Korruption. Der Preis dafür war hoch – und er ist es weiterhin.

Ich hoffe, dass die europäischen Länder sich bewegen und uns helfen, die Bombenangriffe zu stoppen und einen sicheren Fluchtkorridor zu schaffen. Allen, die meine Worte lesen, möchte ich sagen, dass wir wie sie Menschen sind. Auch wir lieben das Leben, wir feiern gern, tanzen und singen. Wir tragen keine Schuld an all dem, was passiert.“ Protokoll: Hiba Obaid; Übersetzung: Jannis Hagmann

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