Stiftungsmitarbeiterin über Rojava: „Die Angriffe durch den türkischen Staat sind dramatisch“
In Celle ist eine Ausstellung über die Frauenrevolution im Nordosten Syriens zu sehen. Stiftungsmitarbeiterin Elisabeth Olfermann über die Lage vor Ort.
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taz: Frau Olfermann, wie organisiert sich die Gesellschaft in der kurdischen Selbstverwaltung Rojava im Nordosten Syriens?
Elisabeth Olfermann: Die Gesellschaft organisiert sich dort von unten nach oben. In Nachbarschaftskomitees werden zum Beispiel kleine Probleme angesprochen. Auf städtischer Ebene geht es um übergeordnete Strukturen und Probleme. Parallel dazu gibt es Organisationen, in denen Frauen unter sich diskutieren.
taz: Die Frauen spielen also eine große Rolle?
Olfermann: Oft wird von der Rojava-Revolution vor mehr als zwölf Jahren auch als der Frauen-Revolutionen gesprochen. Das liegt daran, dass die Frauen seither in allen Bereichen eine leitende Rolle übernommen haben. Schon zu Beginn der Bewegung waren Frauen ein sehr starker Teil der Proteste. Sie haben Institutionen und Strukturen mit aufgebaut und haben sich stark an der Selbstverwaltung beteiligt, indem sie an der militärischen Verteidigung gegen die Terrororganisation „Islamischer Staat“ mitgewirkt haben. Das sieht man auch in den Strukturen: Den Komitees sitzen zum Beispiel immer eine Frau und ein Mann vor.
33, arbeitet in der „Stiftung der Freien Frau in Syrien“ an Projekten zur nachhaltigen Verbesserung der Lebenssituation von Frauen in Nord- und Ostsyrien.
taz: Wie war das unter dem dem syrischen Diktator Baschar al-Assad?
Olfermann: Das Regime von Baschar al-Assad hat die eigene Bevölkerung unterdrückt und Frauen massiv entrechtet, insbesondere Kurd*innen und andere Minderheiten. Jetzt haben die Frauen ihre eigenen Bildungsinstitutionen und Frauenakademien, um sich fortzubilden, arbeiten zu können und unabhängiger zu werden.
taz: Wird die Arbeit von Frauen in Rojava von Repressionen bedroht?
Olfermann: Was wirklich dramatisch ist, sind die Angriffe auf Syrien durch den türkischen Staat. Auch zivile Infrastruktur wird attackiert. Getreidesilos oder auch ein Krankenhaus wurden bereits zerstört. Im Zuge des Sturzes des Assad-Regimes durch die islamistische Hajat Tahrir al-Scham (HTS) hat sich die Syrisch Nationale Armee, die im Norden und Nordwesten Gebiete besetzt, militärisch ausgedehnt und die zuvor noch selbstverwaltete Region Minbic besetzt. Dabei hat man sehr deutlich gesehen, dass explizit die Fraueninstitutionen angegriffen wurden.
taz: Wie geht die internationale Politik mit Nord- und Ostsyrien um?
Olfermann: In all den Jahren hat es die Politik immer noch nicht geschafft, die Region anzuerkennen – und das, obwohl eine sehr konkrete demokratische Gesellschaft aufgebaut wurde. Es ist sehr fadenscheinig, wenn Bundesaußenministerin Annalena Baerbock von „Jin Jiyan Azadî“ spricht, aber dann Nord- und Ostsyrien vergisst.
taz: Also „Frau, Leben, Freiheit“, die Losungsworte der Proteste nach dem gewaltsamen Tod der jungen Kurdin „Jina“ Mahsa Amini in Iran.
„Jin Jiyan Azadî – Die Errungenschaften der Frauenrevolution“: Vernissage mit Vorträgen am So, 2. 3., 15.30 Uhr, Mehrgenerationenhaus Fritzenwiese 46, Celle; Ausstellung bis 31. 3.
Olfermann: Ja, da hat es bis jetzt noch keine Veränderung gegeben – eher im Gegenteil. Wenn man sich anschaut, was es generell für Krisen und Konflikte auf der Welt gibt, gerät Nordost-Syrien eher immer weiter in den Hintergrund.
taz: Welche Konsequenzen hat das für die Bevölkerung ?
Olfermann: Ganz unterschiedlich. Es gibt ein Embargo. Dadurch ist es total schwierig, bestimmte Medikamente oder wirtschaftliche Güter in die Region zu bekommen. Es gibt eine hohe Inflation. Das sind wirtschaftliche Folgen, die gerade arme Menschen und Frauen, die wirtschaftlich schlechter aufgestellt sind, härter treffen. Das alles mit der Ungewissheit von der permanenten Kriegsbedrohung, wo der türkische Staat Drohnenangriffe fährt.
taz: Kann man da noch Hoffnung haben?
Olfermann: Wenn die Frauen von Solidaritätsaktionen aus anderen Ländern hören, ist das total bestärkend. Ansonsten haben sie das Gefühl sie werden vergessen. Es scheint als wären die Bedrohungen, denen sie ausgesetzt sind, der westlichen Welt egal.
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