Stephen Kings Gesellschaftskritik: Amerika unter der Käseglocke
Stephen King ist ein meisterhafter Erzähler. Doch leider wird er noch immer wie ein Schundautor behandelt. Zu Unrecht - wie sein neuer Roman "Die Arena" beweist.
Chesters Mill ist ein verschlafenes Nest im US-Bundesstaat Maine. 2.000 Einwohner. Fast jeder kennt fast jeden. Man züchtet Rosen, betreibt seinen kleinen Handel, geht in die Kirche und verprügelt Fremde. Chesters Mill ist ein Kaff, wie es viele gibt in den USA. Es ist ein Dorf, das Stephen King sich ausgedacht hat. Damit ist klar, dass Chesters Mill aus seinem provinziellen Schlaf ziemlich unsanft erweckt werden wird.
In ein paar Jahren - der Roman "Die Arena", in dem das Örtchen eine Hauptrolle einnimmt, spielt in der nahen Zukunft - wird Chesters Mill weltberühmt werden, wenn auch unfreiwillig. Denn eine große Kuppel aus einem unbekannten Stoff wird sich über den Ort herabsenken und die Bewohnerinnen und Bewohner von der Außenwelt abschneiden. Die Kuppel kommt plötzlich, Vögel fliegen gegen sie und Flugzeuge, Autos zerschellen an ihr und einer braven Gärtnerin wird sie säuberlich die Hand abtrennen. Die Army, die bald eintrifft, kann nichts gegen die Kuppel unternehmen; sie weiß ja noch nicht einmal, aus welchem Stoff sie besteht.
Von diesem Zeitpunkt an wird es noch viel Blut geben in Chesters Mill. Einige der verunsicherten Kleinstädter werden sich zu Herren aufschwingen, dieweil andere versuchen, die zivile Ordnung auch im Ausnahmezustand zu bewahren. Und auf über 1.200 Seiten wird die Spannung nicht nachlassen.
Dieser Artikel ist aus der aktuellen vom 9./10.1.2010 - jeden Sonnabend zusammen mit der taz am Kiosk erhältlich.
Dass Stephen King ein guter Autor ist, weiß das Feuilleton inzwischen. Vom Hochkulturverteidiger Burkhard Müller erntet er ebenso Lob wie vom Genre-Kenner Dietmar Dath, Frank Schirrmacher nannte ihn vor wenigen Jahren sogar ein Genie. Dennoch wird man in intellektuellen Kreisen scheel angeschaut sobald man bekennt, einen King-Roman zu lesen.
Das hat gute und schlechte Gründe. Der gute Grund: Stephen King pflegt einen konventionellen Schreibstil, von der Postmoderne, ja schon von Sprachskepsis ist seine Erzählweise unbeleckt. Zwar überblendet er oft, wechselt geschmeidig von erlebter Rede in den inneren Monolog, spricht dann den Leser überraschend direkt an und erzählt aus auktorialer Perspektive. Sein Erzähler ist grausam und wortgewandt, er hält den Leserinnen und Lesern Informationen vor und trickst. Dennoch ist sein Erzähler verlässlich. Wenn er sagt, dass ein Mensch von A nach B geht, so tut er dies. Und recht viele Menschen gehen bei ihm von A nach B. Bei allen Perspektivwechseln springt Stephen King selten in der Zeit und erzählt im Grunde chronologisch. Das also unterscheidet ihn nicht von - sagen wir - Rosamunde Pilcher oder Uwe Tellkamp. Allerdings ist sein Schreibstil weder süßlich noch manieriert.
Zudem muss man betonen, dass Stephen King leider nicht mehr wirklich ein gutes Lektorat erfährt. Oft ist er zu ausschweifend, wenngleich nur an marginalen Stellen seiner Bücher; noch ärgerlicher ist es, dass sich manche Phrase bei ihm festgesetzt hat. Das ist eigentlich nicht schlimm, gibt es doch Lektorin und Korrektor, die dergleichen streichen. Derartige Wiederholungen sind Flüchtigkeitsfehler, die aus zu großer Routine heraus entstehen. King ist ein durchaus penibler Vielschreiber, wie er nicht zuletzt mit seinem sehr hilfreichen Buch "Das Leben und das Schreiben", das im Original treffender "On Writing" hieß, bewies. Doch er nimmt sich offenbar keine Zeit mehr vor der abschließenden Korrektur seiner Manuskripte.
Die Verlage wiederum werfen die Manuskripte, kaum dass sie ihnen von King übermittelt wurden, rasch auf den Markt, um die immensen Vorschusssummen rasch wieder einzuspielen. Eine gründliche Textarbeit am abgeschlossenen Roman ist unter diesen Bedingungen unmöglich, so dass sich die kleinen handwerklichen Fehler in den vergangenen Jahren doch arg gehäuft haben.
Der andere, der schlechte Grund für die Ablehnung, die Stephen King in intellektuellen Kreisen erfährt: King schreibe lediglich Horror-Romane, heißt es, und somit reine Unterhaltung.
Erstens: Sowieso nichts gegen Unterhaltung! Zweitens: Diese Einschätzung stimmt so aber auch gar nicht. Mit "Die Arena" zeigt Stephen King erneut, dass er ein beeindruckender Autor und vor allem ein Kritiker der Zustände in seinem Land ist. Sein manchmal doch allzu guter Held Dale Barbara, der sich "Barbie" nennen lassen muss, ist ein Heimkehrer aus dem Irakkrieg, der mit seinen traumatischen Erlebnissen alleingelassen wurde. Er bleibt Patriot, doch ist sein Skepsis gegenüber der Regierung groß. Umso verwirrender für ihn, dass er zum Kontaktmann der Army unter der Kuppel wird, reaktiviert von Barack Obama höchstselbst.
"Barbie" ist der Fremde in Chesters Mill, der unter den Bedingungen der Kuppel für viele zum "inneren Feind" mutiert. Großen Anteil daran hat Big Jim Rennie, der örtliche Gebrauchtwagenhändler und zweiter Stadtverordnete, der aus dem Schatten heraus die Geschicke des Ortes lenkt. Rennie ist fanatischer Christ und Anhänger der "Erlöserkirche", in allem Nichtchristlichen sieht er den Feind. Mit Obama glaubt er einen Terroristen an der Regierung. Die Kuppel kommt ihm zupass, da er einiges zu verbergen hat. Sie gibt ihm die Möglichkeit, ein kleines Christenreich voller ordentlicher Amerikaner zu errichten.
Kings Können besteht darin, dass er die "bösen" Figuren mit großer Genauigkeit zeichnet, was auch daran liegt, dass er sie mindestens genauso liebt wie die Helden. Rennie erhält einiges an Charaktertiefe. Doch selbst dem "Chef" verwirrter Angestellten eines nicht unbedeutenden Drogenlabors, das sich in Chesters Mill befindet, und eine reine Nebenfigur, werden Brüche zugestanden, die es für den Handlungsverlauf gar nicht bräuchte. Selbst Vergewaltiger bekommen mehrere Dimensionen, auch solche Figuren, die in zwei, drei Kapiteln skizziert werden, um danach spektakulär getötet werden zu können. Erst langsam entspinnt sich für den in Atem gehaltenen Leser ein Handlungsnetz aus der Unmenge der Charaktere. Und stets zeigt sich, dass King die Fäden mühelos auseinandersortieren kann, nicht eine Figur ist überflüssig, alles ist der Handlung untergeordnet und trägt zu ihrer Erklärung bei.
Nur wenige gröbere Fehler gibt es im Romankonstrukt. Das Internet beispielsweise ist für Stephan King offensichtlich doch nur eine Art erweitertes Telefonnetz; es bekommt für die abgeschnittenen Bewohner - obschon der Zugang einwandfrei möglich ist - kaum die Bedeutung, die Fernseher haben. In Kleinstädten, macht King uns glauben, wird sich die Meinung auch in ein paar Jahren vor allem im nachbarschaftlichen Gespräch bilden.
Doch diese wenigen Konstruktionsfehler sind lässlich, man vergisst sie schnell angesichts der sonst mit großem Geschick erzählten Parabel. Denn eine Parabel ist das Buch, das Amerika unter die Käseglocke stellt, tatsächlich geworden.
Rund anderthalb Jahre hat King an diesem Roman gearbeitet, so erfährt man in der Nachbemerkung. 1976 hatte er sich schon einmal an dem Thema versucht, es dann aber fallengelassen. Abgeschlossen hat er seine Arbeit erst am 14. März letzten Jahres. Gerade einmal acht Monate vor Erscheinen des Buches. Weder hatte also das Lektorat des Originalverlages noch der Übersetzer Wulf Bergner die Zeit, ordentlich zu arbeiten, und das merkt man dem Text dann doch allzu oft an. Für einen Autor dieser Güte, diesen sehr mitreißenden, sehr versierten Erzähler, der sein Handwerk meisterhaft beherrscht, ist das kein angemessener Umgang.
Stephen King: "Die Arena". Aus dem Amerikanischen von Wulf Bergner. Heyne, München 2009, 1.280 Seiten, 26,95 Euro
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