Statistik der Selbsttötungen in Berlin: „Ein Stück weit enttabuisiert“
Vor allem Ältere nehmen sich das Leben, zeigen jetzt veröffentlichte Zahlen des Senats. Ludger Vossmann vom Berliner Krisendienst über Suizid und Depressionen.
taz: Herr Vossmann, die Zahl der Suizide in Berlin ist in den letzten 20 Jahren zurückgegangen, von 555 im Jahr 1993 auf 345 in 2013. Wie kommt das?
Ludger Vossmann: Ein Grund ist möglicherweise, dass das Thema Selbsttötung ein Stück weit enttabuisiert wurde. Ebenso das Thema Depression, die Krankheit kann ja zu Selbsttötungen führen. Wenn etwa in Talkshows über Depressionen gesprochen wird, hilft das Betroffenen. Sie sehen: Anderen geht es ähnlich, auch erfolgreichen Menschen passiert es, dass sie mit ihrem Leben nicht mehr zurechtkommen.
Ein öffentlich bekannt gewordener Suizid kann auch zum Nachahmen ermutigen.
Das mag im Einzelfall so sein. Viele entlastet es aber, zu sehen, dass sie mit ihrem Problem nicht allein sind.
2013 nahmen sich doppelt so viele Männer wie Frauen das Leben. Wie erklären Sie das?
60, ist Diplompädagoge und Mitarbeiter des Berliner Krisendiensts in der Region Mitte.
Frauen sind eher bereit, sich Hilfe zu suchen. Deutlich mehr Frauen als Männer machen beispielsweise eine Psychotherapie. Männer sind auch oft stärker handlungs- oder lösungsorientiert. Wenn es ein Problem gibt, fragen sie sich: Was soll ich jetzt machen? Und wenn ihnen nichts anderes einfällt, dann nehmen sie sich vielleicht das Leben. Bei Frauen kommt es dazu nicht so schnell. Sie haben andere Überlegungen und Strategien erlernt. Ihre Selbstfürsorge klappt oft besser.
Die Zahlen zeigen auch, dass die Suizidgefährdung mit dem Alter steigt. Die über 85-Jährigen töten sich demnach am häufigsten selbst. Weshalb?
Da können viele Dinge eine Rolle spielen. Etwa Alterseinsamkeit, wenn der Partner verstorben ist. Oft leben die Kinder nicht mehr in der Nähe. Für manche ist es sicherlich auch schwer, keine Aufgabe mehr zu haben. Alte Menschen haben zudem häufiger chronische Krankheiten, das mindert natürlich die Lebensqualität. Diese Generation hat auch ein anderes Verständnis von Notlagen.
Nämlich?
Wenn man Menschen dieser Altersgruppe fragt, ob sie eine Krise haben, dann weisen sie das oft zurück, obwohl es ihnen vielleicht miserabel geht. Nach dem Krieg hieß Krise schließlich, dass man Hunger hatte, dass es kalt war in den Wohnungen, dass sie gefroren haben. Die alten Menschen suchen sich daher auch öfters keine Hilfe.
Im Jahr 2013 nahmen sich 345 BerlinerInnen das Leben. Das geht aus der Antwort der Sozialverwaltung auf eine Kleine Anfrage der SPD hervor, die jetzt veröffentlicht wurde.
Im langfristigen Vergleich lässt sich eine erfreuliche Entwicklung erkennen: Wurden 1991 in Berlin noch 561 Suizide gezählt, so waren es zehn Jahre später nur noch 434. Inzwischen liegen die Zahlen regelmäßig zwischen 330 und 370 Selbsttötungen pro Jahr.
Ältere sind besonders gefährdet: Derzeit wird jeder dritte Suizid von einer über 65-jährigen Person begangen. Laut Senat steigt das Suizidrisiko ab dem 35. Lebensjahr kontinuierlich an.
Männer nehmen sich häufiger das Leben als Frauen. Zwischen 2011 und 2013 kamen bei den über 85-Jährigen sogar fast viermal so viel Männer wie Frauen durch Suizid ums Leben. (all)
Anders als bei den deutschen BerlinerInnen hat sich zwischen 2011 und 2013 kein einziger Ausländer über 80 Jahre in Berlin das Leben genommen. Fast in allen Altersgruppen ist das Risiko der Selbsttötung bei Menschen ohne deutschen Pass niedriger als bei denen mit deutschem Pass. Hat das kulturelle Ursachen?
Schwer zu sagen. In anderen Kulturen ist Selbsttötung oft tabuisiert. Es könnte auch sein, dass in Familien mit Migrationshintergrund die Jüngeren noch mehr auf die Älteren gucken, dass da ein anderer Wertekodex besteht. Die Familienverbände sind auch größer, insofern ist das Problem der Einsamkeit geringer.
Tut Berlin genug, um Suizide zu verhindern?
Das Versorgungsangebot hat sich in den vergangenen 20 Jahren verbessert. Menschen mit Suizidabsichten haben heute mehr Anlaufstellen, an die sie sich auch anonym wenden können. Den Berliner Krisendienst gibt es beispielsweise seit 15 Jahren. Da müssen Betroffene keine Angst haben, gleich in die Psychiatrie eingewiesen zu werden, weil sie keinen Namen nennen müssen. Aber klar: Man kann bei der Prävention immer mehr tun, wenn man sich der Sache ernsthaft annimmt.
Zum Beispiel?
Wenn jemand in ein Krankenhaus geht und sagt, er wolle sich das Leben nehmen, wird er sofort aufgenommen. Dazu sind die Kliniken verpflichtet. Auf einen Therapieplatz wartet man aber immer noch vier bis fünf Monate. Das ist kein akzeptabler Zustand.
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