Start der Berlinale: Der Wunsch, nach außen zu strahlen
Die 75. Ausgabe der Berlinale startet am Donnerstag. Wie präsentiert sich das Filmfestival unter seiner neuen Intendantin Tricia Tuttle?
![Tricia Tuttle läuft im roten Mantel über den Roten Teppich in Berlin Tricia Tuttle läuft im roten Mantel über den Roten Teppich in Berlin](https://taz.de/picture/7526555/14/37659160-1.jpeg)
Bei der Berlinale gehört Meckern ein bisschen zum guten Ton. Vonseiten der Presse insbesondere. Manche Dinge werden routinemäßig bemängelt, etwa dass im Verhältnis zu Cannes wenige bewährte Autorenfilmer kommen und im Vergleich zu Venedig zu wenig Hollywood anzutreffen ist, auch wenn sich diese Verhältnisse bei Lage der Dinge ohnehin nicht sonderlich ändern können. Selbst unter einer neuen Leitung nicht.
Das Meckern hat dabei mehr als bloß destruktive Funktion. Allgemein fürchtet man einen Bedeutungsverlust der Berlinale. Unter der künstlerischen Leitung von Carlo Chatrian, der bis zum vergangenen Jahr das Programm gestaltete, sahen viele diese Gefahr wachsen. Auf das Duo von Chatrian und der Geschäftsführerin Mariëtte Rissenbeek ist inzwischen Tricia Tuttle gefolgt. Damit liegt die Verantwortung wieder bei einer einzelnen Person, wie es bei der Berlinale bis 2019 üblich war.
Die US-Amerikanerin Tuttle, die zuletzt in der Zeit von 2018 bis 2022 das London Film Festival leitete, tritt ihre erste Berlinale, die zugleich die 75. Ausgabe der Internationalen Filmfestspiele von Berlin ist, unter der Berufsbezeichnung „Intendantin“ an. Ihre Ein-Mann-Vorgänger bis einschließlich Dieter Kosslick hatten das Festival noch als „Direktoren“ geleitet. An der Funktion ändert das jedoch wohl nichts.
Wie gut die Berlinale mit Tuttle aufgestellt ist, um dem Festival wieder größere internationale Beachtung zu verleihen, muss sich noch erweisen. An dieser Stelle Prognosen abzugeben, wäre verfrüht. Tuttle hat auf jeden Fall einen kleinen Akzent gesetzt, der ihren Führungsstil ankündigt, denn sie steht bei der Auswahl für den Wettbewerb nicht ganz allein an der Spitze, sondern teilt sich diese Aufgabe mit zwei Co-Direktoren: Die Kuratorin Jessica Nyonga war zuvor US-Delegierte der Berlinale, ihr Kollege Michael Stütz leitet zudem die nicht gerade kleine Nebensektion „Panorama“.
Vom ersten Eindruck des Programms her sind zunächst keine wesentlichen Veränderungen von dieser Berlinale zu erwarten. Die deutlichste Abweichung besteht darin, dass der unter Chatrian eingeführte Parallelwettbewerb „Encounters“ mit bevorzugt offenen filmischen Ansätzen abgelöst wird von einer ebenfalls als zweiter Wettbewerb konzipierten Sektion mit dem Namen „Perspectives“. Diese ist ausdrücklich Debütfilmen gewidmet, eine Kontinuität bei der Offenheit nicht ausgeschlossen. Dass bekannte Namen darin die Ausnahme bilden dürften, versteht sich von selbst.
Klingende Namen bietet andererseits auch der Wettbewerb nicht allzu viele. Mit Richard Linklater („Boyhood“) ist ein US-amerikanischer „Independent“-Star vertreten, die Besetzung seines aktuellen Films „Blue Moon“ mit Ethan Hawke, Margaret Qualley und Bobby Cannavale sorgt für ein gut Teil des Aufgebots an Hollywood-Prominenz.
Der mexikanische Regisseur Michel Franco arbeitet in seinem Wettbewerbsfilm „Dreams“ erneut mit der Schauspielerin Jessical Chastain als Hauptdarstellerin zusammen, und im restlichen Wettbewerb kommen ein paar namhafte europäische Darsteller zusammen, darunter Vicky Krieps. Der Regisseur Radu Jude lässt mit seinem Beitrag „Kontinental ’25“ auf scharfe Zeitdiagnose mit Witz hoffen. Er hatte 2021 den Goldenen Bären für „Bad Luck Banging or Loony Porn“ gewonnen.
Dass Frédéric Hambalek mit „Was Marielle weiß“, in dem Julia Jentsch eine der Hauptrollen spielt, als einziger deutscher Regisseur im Wettbewerb vertreten ist, muss im Übrigen kein Nachteil sein. Und der Umstand, dass auch dieses Jahr der südkoreanische Regisseur Hong Sangsoo im Wettbewerb antritt („What Does that Nature Say to You“ lautet der internationale Titel seines Films), braucht überhaupt kein Grund zur Klage sein. Manche Gewohnheiten sollte man einfach pflegen.
Für Stars ist jenseits des Wettbewerbs allemal gesorgt: Dass James Mangolds Bob-Dylan-Biopic „A Complete Unknown“ mit Timothée Chalamet in der Rolle des Singer-Songwriters kurz vor seinem deutschen Kinostart als „Berlinale Special“ Premiere hat, dürfte mit hoher Wahrscheinlichkeit für den gewünschten Kreischfaktor sorgen. Und nicht zu vergessen: Tom Tykwer holt mit seinem Spielfilm „Das Licht“, der die Berlinale heute eröffnet, Lars Eidinger und Nicolette Krebitz auf die Leinwand des Berlinale-Palasts.
Der Filmtitel passt dabei ganz gut zum eher abstrakt gehaltenen Plakatmotiv der Berlinale, einem in mehrere Bögen zerteilten Kreis, aus dessen Mitte – zentralperspektivisch – Strahlen hinausragen. So als wolle man signalisieren, dass die Sache energisch nach außen dringen möge.
Nachdem die Berlinale im vergangenen Jahr vor allem durch die Debatte über die Frage nach Antisemitismus auf dem Festival nach außen wirkte, ist der Konflikt durch den begonnenen Geiselaustausch zwischen Israel und der Hamas in eine andere Phase eingetreten. Hier setzt die Berlinale ein positives Zeichen, wenn auch mit ein wenig Verspätung: Der Schauspieler David Cunio, der unter den israelischen Geiseln im Gazastreifen ist, war 2013 im Film „Youth“ auf der Berlinale zu sehen.
Laut Berichten aus der Presse hatte es 2024 schon Anfragen gegeben, ob sich die Berlinale daher mit ihm solidarisch zeigen würde. Diese sollen unbeantwortet geblieben sein, eine Solidaritätsbekundung gab es damals nicht. Dafür ist dieses Jahr der Regisseur von „Youth“, Tom Shoval, mit dem Film „A Letter to David“ im Programm, einer filmischen Solidaritätsadresse, in der Shoval Material aus der Zeit von „Youth“ mit heutigen Bildern von David Cunios Familie verbindet, allen voran sein Zwillingsbruder Eitan Cunio.
Freuen kann man sich ansonsten ebenso auf bemerkenswerte Debütfilme wie Sarah Miro Fischers „Schwesterherz“, der von einer Gewissensprüfung unter Geschwistern erzählt. Der Regisseur Ira Sachs kehrt nach „Passages“ (2023) mit „Peter Hujar’s Day“ zum Festival zurück, um in seinem Kammerspiel scheinbar beiläufig Einblicke in die Künstlerszene New Yorks in den siebziger Jahren zu bieten. Freunde des Pianisten Keith Jarrett wiederum könnten mit „Köln 75“ von Ido Fluk auf ihre Kosten kommen, wird darin doch die Entstehung von dessen Über-Hit „The Köln Concert“ aus dem Jahr 1975 fantasievoll nacherzählt.
Auch die Dokumentarfilme und Filmessays haben dieses Jahr einiges zu bieten, ohne dabei zwangsläufig offenkundig „engagiert“ zu sein. Kühnes findet sich in jedem Fall darunter. „The Sense of Violence“ von Kim Mooyoung denkt mithilfe von Archivmaterial und Szenen aus alten Spielfilmen darüber nach, wie sich der Antikommunismus in Südkorea in Architektur und Kino manifestierte.
Die Regisseure und Brüder Gianluca De Serio und Massimiliano De Serio unternehmen in „Canone effimero“ eine musikethnologische Reise durch Italien, um das Fortleben alter Traditionen in den einzelnen Regionen des Landes zu erkunden. „Paul“ von Denis Côté begleitet einen jungen Mann in Kanada, der die Wohnungen von dominanten Frauen putzt, was ihm als eine Art Therapie dient. Ein wenig Mut erfordert wohl „Palliativstation“ von Philipp Döring, der das Publikum vier Stunden lang an der Arbeit in einem Berliner Krankenhaus teilhaben lässt.
In dieser Hinsicht findet sich immer noch genug Interessantes und filmisch Innovatives auf dieser Berlinale, Strahlkraft hin oder her. Die Frage nach dem Profil des Festivals stellt sich ungeachtet dessen weiter. Mehr dazu dann spätestens nach der Bundestagswahl.
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