Städtetourismus in Coronazeiten: Kein Koffer mehr in Berlin
Der Lockdown hat die Reisebranche der Hauptstadt zum Erliegen gebracht, Besucher aus dem Ausland fehlen. Eignet sich Berlin auch für Inlandstourismus?
D as Transparent ist abgehängt. „Zu viel Wind, das war nicht mehr sicher“, sagt Jörg Schöpfel. „Tolle Idee, lieber Senat“, stand darauf. „Dichtmachen und dann Miete kassieren wollen.“ Doch die Fenster in der ersten Etage sind noch immer verhängt. Plakate im Coronastyle. Ein Rettungsring ist zu sehen und ein Bett als Verbotsschild.
Jörg Schöpfel ist einer der beiden Geschäftsführer des Hostels EastSeven in der Schwedter Straße im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg. Die sechzig Betten sind um diese Zeit normalerweise belegt. Doch seit Restaurants und Hotels Mitte März schließen mussten, geht nichts mehr im EastSeven. „Sechs Angestellte haben wir in Kurzarbeit entlassen, die Studenten, die normalerweise an der Rezeption arbeiten, bekommen nicht einmal Kurzarbeitergeld“, sagt Schöpfel.
Zwar erhielten er und sein Kompagnon vom Land Berlin und vom Bund 15.000 Euro Soforthilfe. „Doch die Mietschulden belaufen sich auf 50.000 Euro“, rechnet Schöpfel vor. Dass das Transparent gegen den Senat gerichtet war, hat noch einen besonderen Hintergrund: „Unser Vermieter ist die landeseigene Gewobag.“ Erlassen will sie dem Hostel die Miete nicht, nur stunden. „Wir müssen das alles wieder zurückzahlen.“
Jörg Schöpfel teilt sein Schicksal mit 800 anderen Betreibern von Beherbergungsbetrieben, die seit Mitte März keine Einnahmen mehr haben. In der Gastronomie sind vom Lockdown sogar 19.000 Restaurants, Cafés oder Bars betroffen. Zwar hatte Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) schon auf der Bund-Länder-Konferenz am 30. April eine Perspektive für das Gastgewerbe angemahnt. Am 2. Mai hat Müller seine Forderung noch einmal bekräftigt. „Ich halte das für keinen gangbaren Weg: zu sagen, die Gastronomie ist als Letztes dran, erst wenn die Großveranstaltungen dran sind“, sagte er.
Seit dieser Woche scheint es, dass der Ruf des Regierenden gehört wurde. Vor der neuerlichen Bund-Länder-Schalte am Mittwoch waren schon einige Länder vorgeprescht und hatten Lockerungen auch im Gastgewerbe in Aussicht gestellt. So hatte Niedersachsens Wirtschaftsminister Bernd Althusmann (CDU) angekündigt, Gaststätten bereits am 11. Mai wieder zu öffnen, vorausgesetzt, Abstands- und Hygieneregeln würden eingehalten. Hotels und Pensionen sollen bis Pfingsten folgen. Im gesamten Gastgewerbe soll eine Auslastungsgrenze von 50 Prozent gelten.
Der Alleingang, dem weitere zu folgen drohten, zeigte offenbar Wirkung. Am Dienstag, einen Tag vor der Bund-Länder-Konferenz, einigten sich die Wirtschaftsminister auf einen Fahrplan. Dem zufolge sollen gastronomische Einrichtungen in einem zeitlichen Korridor vom 9. bis 22. Mai wieder öffnen dürfen.
Einige Länder preschen vor, Bund und andere Länder ziehen nach – auch der Hotellerie steht ein solches Szenario bevor. Ab 18. Mai öffnen Hotels in Mecklenburg-Vorpommern für Einheimische, eine Woche später dürfen auch auswärtige Gäste übernachten. In Niedersachsen dürfen ab dem 25. Mai Hotels, Pensionen und Jugendherbergen touristisch genutzt werden. Das Ziel sei aber, die Gästezahl zu reduzieren, hieß es aus dem Wirtschaftsministerium in Hannover. Für Übernachtungsangebote gilt, dass ein Hotelzimmer oder eine Unterkunft frühestens nach sieben Tagen wieder neu vergeben werden darf.
Und in Berlin? Nach der Konferenz der Ministerpräsidenten mit der Bundeskanzlerin hat der Senat noch am Mittwochabend Eckpunkte für Lockerungen im Tourismus beschlossen. So dürfen Restaurants und Cafés ab dem 15. Mai wieder öffnen. Hotels sollen dann am 25. Mai, also rechtzeitig zu Pfingsten, wieder Gäste empfangen dürfen. „Wenn jemand von Bayern an die Ostsee fährt“, hieß es aus dem Roten Rathaus, „wollen wir ihn nicht daran hindern, einen Zwischenstopp in Berlin zu machen und das Brandenburger Tor anzuschauen.“
Mit Gästen aus dem Ausland, darin sind sich alle einig, wird in diesem Jahr aber nicht mehr zu rechnen sein.
Insolvenzen befürchtet
Die Dehoga begrüßte die Lockerungen, die der Bund den Ländern ermöglicht hat. Dennoch hätte sich Thomas Lengfelder, der Berliner Hauptgeschäftsführer des Hotel- und Gaststättenverbands, schon früher eine Perspektive auf eine Lockerung gewünscht. Denn die Soforthilfen vom Bund und dem Land Berlin in Höhe von 9.000 und 5.000 Euro für kleine Betriebe hätten bei Weitem nicht ausgereicht. „Das ist die einzige Hilfe, die den kleinen Unternehmen zur Verfügung gestellt wird“, bedauert Lengfelder. „Für die größeren gibt es bislang nur Kredite. Aber wenn sie gerade investiert haben und schon einen Kredit bedienen müssen, ist es schwierig, einen weiteren Kredit zu bekommen.“
Die wirtschaftliche Lage vieler Gastronomen und Hotelbetreiber ist nach acht Wochen Einnahmeverlust prekär. Zwar hat Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) eine Soforthilfe auch für größere Unternehmen in Aussicht gestellt. „Aber es gab lange Zeit keine Information, wann es losgeht“, sagt Dehoga-Landeschef Lengfelder. „Jeder geschlossene Tag brachte mehr Nervosität.“ Auch die Senkung der Mehrwertsteuer für Speisen in Restaurants sei während des Lockdowns keine Hilfe. „Das macht sich erst bemerkbar, wenn es wieder losgeht.“
Lengfelder betont, welche wirtschaftliche Bedeutung der Tourismus in Berlin hat: „Hotels und Gaststätten bieten 90.000 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze, 160.000 weitere gibt es bei Dienstleistern wie etwa Wäschereien.“
Und wie viele von ihnen kommen durch die Krise? Berlins Dehoga-Chef befürchtet, „dass 30 Prozent der Hotels und Restaurants in Berlin von Insolvenz betroffen sein könnten“. Dabei mache es keinen Unterschied, ob es sich um inhabergeführte Betriebe wie das Hostel EastSeven oder um Ketten handele. „Gerade große Ketten agieren weltweit und sind womöglich noch stärker betroffen“, sagt Lengfelder.
Hotels zu, Restaurants zu, Touristen weg. So sah und sieht der Lockdown aus in einer Stadt, die noch am 21. Februar einen neuen Rekord vermelden konnte. Nach Angaben des Amtes für Statistik Berlin-Brandenburg konnten die Berliner Hotels und Hostels im Jahr 2019 rund 34,1 Millionen Übernachtungen verzeichnen. Das waren 3,8 Prozent mehr als 2018. Insgesamt hat sich die Zahl der Übernachtungen innerhalb von 16 Jahren verdreifacht. 2003 hatte sie noch 11,4 Millionen betragen.
Auch die Zahl der Gäste hatte 2019 mit knapp 14 Millionen einen neuen Höchststand erreicht. Sie legte gegenüber dem Vorjahr noch einmal um 3,4 Prozent zu.
Und dann teilte das Statistikamt noch eine Zahl mit, die wenige Wochen später das ganze Ausmaß der Tourismuskrise in Berlin verdeutlichen sollte. „Der Anteil der Übernachtungen ausländischer Gäste betrug 45,4 Prozent.“
Derjenige, der normalerweise Erfolgsmeldungen wie die vom 21. Februar verkündet, ist Burkhard Kieker. Seit 1985 lebt der gebürtige Rheinländer in Berlin, seit Januar 2009 ist er Geschäftsführer der Berlin Tourismus & Kongress GmbH, die unter dem Markenzeichen visitBerlin agiert. „Wir sind vom Overtourismus, den es an einigen Stellen gab, in den flächendeckenden Undertourismus gestürzt“, sagt er nun, nur wenige Wochen nach dem Vermelden der jüngsten Tourismusrekorde.
Fehlende Lust auf Großstadtgewusel
Auch die Lockerungen vom Mittwoch, die den Inlandstourismus langsam wieder ankurbeln könnten, will Kieker nicht überbewerten. „Viele werden keine Lust auf Großstadtgewusel haben“, gibt er zu bedenken. „Der Städtetourismus wird von Corona am meisten betroffen sein.“
Seinen Optimismus hat Kieker dennoch nicht verloren. „Berlin hat eine Sonderstellung“, ist er überzeugt. „Wir sind nicht der Moloch wie Manhattan, sondern haben viel Grün und Blau.“
Doch nicht jeder Berlinreisende aus Stuttgart oder Weimar will im Strandbad Weißensee die Beine im Wasser baumeln lassen oder auf dem Tempelhofer Feld die Weite suchen. Das zeigt allein schon die Verteilung der Berlintouristen auf die verschiedenen Sparten. Jeder Zehnte kommt nämlich nach Berlin, um sich ins Nachtleben zu stürzen. Das wird aber auf absehbare Zeit nicht möglich sein.
Und auch hinter Messen und Kongressen steht ein großes Fragezeichen. Deren Besucher machen sogar ein Viertel aller Reisenden nach Berlin aus. Und wer weiß, wie viele Tagungen es noch geben wird, wenn gerade jeder merkt, dass das auch mit Videokonferenzen geht.
Bleiben die 50 bis 60 Prozent Kulturtouristen, um die visitBerlin jetzt verstärkt werben will. Auch im Sinne der Stadt, betont Burkhard Kieker. „Jetzt sehen wir erst, wie sehr die Kultur am Tourismus hängt. 60 Prozent der Kultureinrichtungen gäbe es nicht ohne Gäste. Das ist in Wuppertal vielleicht anders, aber wir als Hauptstadt sind auch ein Schaufenster.“
Die 178 Museen, die seit dem 4. Mai wieder geöffnet sind, würden die Berliner alleine nicht füllen können. „Alles, was wir in den letzten dreißig Jahren erreicht haben“, meint Kieker, „ist sehr fragil und hängt davon ab, ob die Menschen Lust haben, wieder nach Berlin zu kommen.“
Eines aber steht für den visitBerlin-Chef fest: Auf ausländische Gäste wird Berlin in diesem Jahr nicht mehr setzen können. So ist die Grenze zu Polen nach wie vor geschlossen, obwohl Gäste aus dem Nachbarland 2019 nach denen der Russischen Föderation mit fast 500.000 Übernachtungen die zweitgrößten Zuwächse hatten.
Flieger am Boden
Darüber hinaus liegt der Flugbetrieb am Boden. Nur knapp 27.600 Fluggäste starteten und landeten im April in Tegel und Schönefeld, teilte die Flughafengesellschaft am Mittwoch mit. „Das ist nur noch 1 Prozent des Verkehrs vom April 2019.“ Der Großteil, etwas mehr als 22.000 Passagiere, flog nach Tegel. Nach Schönefeld waren es rund 5.500 Fluggäste.
Auch Burkhard Kieker kennt diese Zahlen. „Wir können vergessen, dass die Krise schon im Sommer oder Herbst vorbei ist“, warnt er. „Normalität wird erst Monate oder ein Jahr nach Einführung eines Impfstoffes einkehren. „Bis dahin müssen wir intelligente und verantwortungsvolle Lösungen suchen.“
Auch das EastSeven Berlin Hostel lebt vom internationalen Tourismus. „Normalerweise verdienen wir im Sommer das, was wir brauchen, um im Winter über die Runden zu kommen“, sagt Betreiber Jörg Schöpfel. Er hat schon einmal ausgerechnet, was eine Lockerung im Mai oder Juni, so sie bei ihm möglich wäre, bedeuten würde. „Wir werden im Juni vielleicht eine Auslastung von 10 bis 20 Prozent haben und im Juli und August von 30 bis 40 Prozent. Wir werden im Sommer also etwa die Hälfte von dem einnehmen, was wir sonst im Winter einnehmen.“
Kommen ab Ende Mai also Gäste aus dem Inland in die Stadt, wenn es wieder möglich ist? Oder fahren sie doch lieber an die Ostsee, nach Brandenburg oder in die Berge? „Diesen Sommer wird die Ostsee boomen“, sagt Burkard Kieker von visitBerlin voraus. „Da ist jetzt schon bis Herbst alles ausgebucht. Die Leute buchen inzwischen auf gut Glück.“ Auch Brandenburg sei stark nachgefragt. „Für Berlin wird jetzt unser Konzept für einen besser verteilten und nachhaltigeren Tourismus wichtig“, ist Kieker überzeugt.
Auch Hostelbetreiber Schöpfer hofft auf Gäste aus dem Inland, selbst wenn Großveranstaltungen weiter untersagt werden und das Nachtleben geschlossen bleiben wird. „An der Ostsee wird es Kapazitätsprobleme geben“, lautet seine Prognose. „Der Inlandstourismus wird sich wahrscheinlich verteilen. Vielleicht fahren die Leute fünf Tage an die Ostsee und drei Tage nach Berlin.“ Allerdings sei auch noch unklar, wie viele sich überhaupt noch einen Urlaub leisten können nach der Krise. Dass es in Berlin steigende Preise geben wird, wie sie etwa für die Ostsee befürchtet werden, glaubt Schöpfer aber nicht.
Wie hält man Abstand im Gemeinschaftsbad?
Und dann gibt es noch die vielen kleinen Probleme, die aber für den Betrieb eines Hostels große Folgen haben könnten. Natürlich ist für Jörg Schöpfel klar, dass die Abstandsregeln eingehalten werden müssen. Aber wie ist das mit den sanitären Einrichtungen? „Bei uns im Hostel gibt es 14 Gemeinschaftsbadezimmer, die sich die Gäste teilen“, erklärt er. Bei der Senatsverwaltung für Gesundheit hat er schon einmal nachgefragt, wie er und andere Hostels mit Gemeinschaftsbädern umgehen sollten. „Wir haben keine Auskunft bekommen. Wir wissen gar nicht, ob eine Lockerung bei uns überhaupt möglich ist.“
Die Post-Corona-Tourismuswelt ist für Burkard Kieker noch nicht absehbar. „Wir schauen derzeit in eine Glaskugel. Wir gehen in eine neue Welt und wissen noch nicht, wie sie aussieht. Ich schätze, erst 2022 werden wir sehen, was sich wirklich verändert hat.“
Und der Tourismus aus dem Ausland? Burkhard Kieker ist da wenig optimistisch. „Die Kernmärkte, wo die Masse der Gäste herkommt, sind von Corona besonders stark betroffen. Da kann keiner absehen, ob wir da überhaupt mittelfristig ein Potenzial haben.“ Kieker glaubt zwar, dass Airlines wie die Lufthansa und Eurowings, aber auch Easyjet und Ryanair überleben werden. „Bei kleineren Fluggesellschaften kann es dagegen eng werden.“
Eine weitere Frage sei, ob sich die Menschen wieder in Flugzeuge trauen würden. „Es wird höhere Flugpreise geben und gleichzeitig eine sinkende Kaufkraft wegen steigender Arbeitslosigkeit. Das drückt auf die Nachfrage.“ Der Kurzurlaub, glaubt Kieker, „wird wohl das Erste sein, das über die Wupper oder die Spree geht.“
Für den Erfolgsmenschen Kieker fühlen sich der Lockdown und die Diskussionen über Lockerungen an wie ein Fahrradunfall. „Wir stehen wieder auf, sind voller Adrenalin und merken erst später, dass wir uns ein Bein gebrochen haben.“
Dennoch sieht Kieker in der Krise auch etwas Positives. „Wir werden nicht vom Sockel fallen und auch in zwei oder drei Jahren noch die Nummer drei in Europa sein – wenn auch auf niedrigerem Niveau. Vielleicht ist das auch eine Verschnaufpause nach den atemlosen Entwicklungen der letzten Jahre.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
100 Jahre Verkehrsampeln
Wider das gängelnde Rot
++ Nachrichten zum Umsturz in Syrien ++
Baerbock warnt „Assads Folterknechte“
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt
Mehr Zugverkehr wagen
Holt endlich den Fernverkehr ins Deutschlandticket!