Städtepartnerschaften im Krieg: Zeit der Prüfung
Das niedersächsische Celle unterhält Städtepartnerschaften nach Russland und in die Ukraine. Eine blüht gerade auf, die andere gerät unter Druck.
D ie Schilder sind gut gemeint und haben sicher auch irgendeinen Sinn. Aksana Shestakova machen die Pfeile in und um Celles Altstadt allerdings eher ratlos. Ganz besonders die Radwegweiser, die einem mitten in Celle erzählen, wie weit es noch nach Celle ist.
Hier in der Innenstadt zum Beispiel: noch 1,5 Kilometer. Shestakova gibt ihn vorerst auf, den Versuch, mit deutschen Schildern analog zu navigieren, und greift doch wieder zum Smartphone, um ihre Wohnung zu finden – irgendwo hinter diesen Hinweistafeln Richtung Altstadt, Italienischer Garten, Kirche, Museum, Kneipp-Anlage und dem Institut für Bienenkunde.
Shestakova ist seit drei Tagen im niedersächsischen Celle, das eine halbe Stunde Regionalbahn von Hannover entfernt liegt. Geflohen ist sie vor dem Krieg in der Ukraine, wie so viele andere. Und dann hier untergekommen, wie auch gar nicht mal so wenige. 130 Wohnungen hatte man schon vergangene Woche vermittelt, und es werden täglich mehr.
Verglichen mit Berlin oder auch nur Hannover ist das nicht der Rede wert, aber Celle ist nicht groß, hat nur rund 70.000 Einwohner:innen, eine schnuckelige Fachwerkinnenstadt und ein Schloss. Und die Tourist:innen, die sich das angucken kommen, erwarten hier eher Ruhe, Frieden und Apfelkuchen als den Nabel der Welt.
Man durfte jedenfalls durchaus ein bisschen irritiert sein, als CDU-Landespolitiker Thomas Adasch vergangene Woche einen „Celler Korridor“ ins Gespräch brachte, über den Menschen aus der ukrainischen Stadt Sumy befreit und hier an der Aller in Sicherheit gebracht werden sollten. „Jetzt“, hatte Adasch der Lokalpresse gesagt, müsse Celle zeigen, „was echte Partnerschaft ist“.
Aksana Shestakova, die ihre Wohnung inzwischen gefunden hat, kennt Herrn Adasch nicht – und sie stammt auch gar nicht aus Celles Partnerstadt Sumy. Trotzdem hat ihr Hiersein irgendwie zu tun mit dieser 1990 geschlossenen Städtefreundschaft. Weil es hier Menschen gibt, die ihren Bruder kennen, der hier mal ein Praktikum gemacht hat. Und weil es deshalb nur zwei Telefonate brauchte, um sie unkompliziert, schnell und nahezu ohne Deutschkenntnisse unterzubringen.
Aber auch die offiziellen Kanäle funktionieren offenbar: An der Alten Exerzierhalle, wo sich die Geflüchteten registrieren lassen, gibt es keine Warteschlange. Am Spielplatz der nahen Parkanlage warten nur zwei Frauen auf ihren Amtstermin. Die Sonne scheint, jemand hat Eis besorgt, und selbst das Fußballspiel durch die Krokusse auf der Wiese regt zumindest heute niemanden auf. Auch die Zahlen des Oberbürgermeisters sprechen für sich: Kaum waren die 130 Wohnungen bereit, visierte Jörg Nigge (CDU) 500 an, sogar 1.000 wären machbar dank Ferienwohnungen, Hotels und der städtischen Wohnungsbaugesellschaft.
Vor allem aber: weil die Meschen helfen. Shestakova etwa taucht in den städtischen Zahlen überhaupt nicht auf, weil sie sich nicht hat registrieren lassen und die Wohnung unter der Hand bekam. Der „Vermieter“, wie sie sagt, nimmt auch gar keine Miete, hätte dafür aber gleich viel Essen eingekauft.
Das kleine Haus gehört seiner Mutter. Es hat auch Fachwerk. Dass es von außen irgendwie schiefer aussieht als die Postkartenidylle der nahen Altstadt, liegt nur daran, dass die Farbe abblättert und die Fugen darum etwas aus der Form zu quellen scheinen. Drinnen steht noch viel vom Zeug der Eigentümerin, die seit einer Weile im Heim lebt. „Ich habe auf dem Sofa geschlafen“, sagt Shestakova, weil ihr das fremde Bett ein bisschen unheimlich ist. Natürlich sei sie dankbar für die Wohnung, aber tagsüber ist sie doch lieber draußen an der Luft – und nachts manchmal auch.
Ein Netz der Freundschaft
Celle hat bemerkenswert viele Partnerstädte auf der Welt: zehn oder sogar elf, wenn man die deutsch-deutsche Union mit Quedlinburg im Harz mitzählt. Dass die nach Sumy im Nordosten der Ukraine mit Kriegsbeginn wieder etwas mehr in Erinnerung rückt, gilt genauso für eine weitere: für Tjumen in Russland. Und während die Nähe zu Sumy gerade zumindest symbolische Blüten treibt – von ukrainisch beflaggten Restaurants, massenhaft geschnürten Hilfspaketen und blau-gelbem Solieis in der Fußgängerzone –, gerät die andere zunehmend unter Druck. Dabei versucht man händeringend, auch nach Tjumen in Russland offen zu halten, was eben geht. Tatsächlich hatte Oberbürgermeister Nigge kurz nach Kriegsbeginn auf einer Pressekonferenz ausdrücklich davor gewarnt, „sich zu entpartnern“. Manche deutsche Städte haben das getan. Celle nicht.
Dennoch wird es offenbar schwieriger: In Celles Deutsch-Russischer Gesellschaft herrscht Funkstille, es ist niemand im Haus, niemand am Telefon, niemand, der E-Mails beantwortet. Auch in der Community ist die Stimmung unterkühlt.
Da ist ein kleines Geschäft an der Ausfahrtsstraße: „Russische Spezialitäten“, steht auf der Scheibe, darüber offenbar frisch geklebte Balken in Blau und Gelb. Es ist eine der Sammelstellen für medizinische und technische Hilfsgüter – und gleichzeitig ein Treffpunkt der Communitys, weil hier sowohl russische als auch ukrainische Kundschaft verkehrt. Man versucht, die Politik rauszuhalten.
Was dem Laden offenbar gelingt, bereitet anderen Bauchschmerzen: Am Tag nach dem Besuch in Celle meldet sich ein russischer Gesprächspartner, der doch nicht in der Zeitung stehen möchte und um Entschuldigung bittet. Es ist der Donnerstag, an dem Russlands Präsident Putin in einer Fernsehansprache prowestliche Landsleute als „Abschaum und Verräter“ bezeichnet und mit „natürlicher Säuberung“ droht.
Aber die Spuren der Partnerschaft gibt es doch: eine Tjumenstraße am Stadtrand zum Beispiel oder die Wegweiserskulptur in der Altstadt, die auf alle Partnerstädte verweist. Und natürlich die Erinnerungen der Menschen, die als Schüler:innen dort waren, mit ihren Sportmannschaften, für Kultur oder geschäftliche Kontakte. Mit Celles jahrhundertealtem Fachwerk-Knowhow wurde auch ein sibirisches Holzhaus nahe Tjumens Universität restauriert.
Spuren in bessere Zeiten
So schön die Erinnerungen aber auch sein mögen: Drängender ist der Blick in die Zukunft. Dass die Partnerschaft nach Sumy einzuschlafen drohe, stand bereits Jahre vor dem Krieg in der Celleschen Zeitung. Ein Schüleraustausch in die Ukraine fand nicht mehr statt, was auch an der Konkurrenz liegen dürfte: Die Schulen in Celle werben dann doch eher für ihre Programme in die USA, Argentinien oder Israel.
Am Celler Hölty-Gymnasium gibt es noch einen Russland-Austausch, zumindest theoretisch. Allerdings sei auch hier nicht die Partnerstadt Tjumen das Ziel, sagt Lehrerin Daniela Bunkenburg. Sankt Petersburg oder Moskau seien für die Schüler:innen attraktiver. Aber auch da tut sich eine Lücke in den Jahrgängen auf: Erst kam die Coronapandemie und jetzt der Krieg.
Das Hölty-Gymnasium hat einen offenen Brief an die russische Partnerschule geschrieben: „Dass wir uns wahrscheinlich in der nächsten Zeit nicht gegenseitig besuchen können, ist bedrückend“, heißt es darin. Dass man sich Frieden wünsche und auf Begegnung in friedlichen Zeiten hoffe. Und: „Ihr könnt uns schreiben.“
Bereits getan habe das die russische Schulleiterin, erzählt Bunkenburg. „Wir teilen Ihre Sorgen über die aktuelle Lage“, so das Schreiben, und: „Unsere kulturellen und zwischenmenschlichen Beziehungen und Partnerschaften im Bildungsbereich dürfen nicht vom Willen der Politiker abhängen!“
Dass sie meistens aber doch immerhin von ihnen gestiftet werden, beweist Martin Biermann, der wohl als Architekt von Celles vielfältigen Partnerschaften gelten darf. Früher war er hier Oberbürgermeister, seit ein paar Jahren ist er in Rente. Ganze acht der Partnerschaften hat er auf den Weg gebracht: eine beachtliche Sammlung, in der sich von Russland zur Ukraine, von Polen bis Israel, die Geschichte des 20. Jahrhundert spiegelt. Auch wenn er heute nicht mehr in der Politik tätig ist, lassen ihn die aktuellen Ereignisse nicht los: „Der Krieg treibt mich um“, sagt der 79-Jährige und erzählt, wie er bis in die späten Abend nicht von den Nachrichten loskommt.
Die Städtepartnerschaften verstehe er als „Friedensdividenden“, verbunden mit der Hoffnung, dass Menschen aus persönlichen Beziehungen Abwehrkräfte gegen Propaganda entwickelten. Doch auch wenn das ein bisschen so klingen mag: Rein idealistisch waren die Partnerschaften in den Osten nie. Sumy und etwas später auch Tjumen wurden angestoßen aus der Wirtschaft, weil es in allen drei Regionen Öl gibt.
Im Celler Umland suchten und förderten damals – Anfang der 1990er – vorwiegend US-amerikanische Firmen, die sich brennend für die Vorkommen im sich öffnenden Ostblock interessierten. Statt mit Kulturprogramm und Austauschschüler:innen reiste Biermann also mit Geschäftsleuten hinüber. Die seien auf der anderen Seite höchst willkommen gewesen, weil man sich westliches Knowhow versprach und schließlich auch bekam.
Das sind bis heute fruchtbare, aber nicht unbedingt sichtbare Anker in Celle: Die Management-Akademie im Schloss unterhält eine Repräsentanz in Moskau, zahlreiche Unternehmen in der Stadt betreiben das Wirtschaftsmiteinander auch in der Praxis.
Soziale, kulturelle und persönliche Projekte entstünden hingegen nur, so Biermann, „wenn die Partnerschaften auch gelebt werden“. Er selbst hatte es sich zur Regel gemacht, in jedem Jahr mindestens drei der Partnerstädte zu besuchen. In Tjumen hat er Vorträge an der Uni gehalten, über kommunale Selbstverwaltung und Föderalismus. „Partnerschaften“, sagt Biermann, „sind nicht nur ein paar unterschriebene Dokumente, die man sich wie einen Skalp an die Wand hängt.“
Und natürlich gibt es diese skalpierten Partnerschaften auch. Manche werden erst irgendwann dazu, wenn die Gründer:innengeneration wegstirbt, das Geld fehlt oder die Lust. In Celle scheint das nicht so zu sein, auch wenn das Interesse für diese oder jene Stadt mal mehr und mal weniger groß ist. Dagegen helfen soll hier ein ganzes Netz mit eigens gegründeten Gesellschaften und Freundeskreisen der anderen Städte, um die Beziehungen auf breite und vor allem zivile Füße zu stellen.
Auch wenn die Geschichte dieser Partnerschaften also keine One-Man-Show ist, scheint sie doch vielfältig verzahnt mit Biermanns politischer Biografie und ihrer Epoche. Als Biermann 1982 nach fast zehn Jahren Stadtrat Ministerialdirigent in Bonn wird, herrscht Kalter Krieg. Das Internet von heute ist bestenfalls eine Science-Fiction-Idee, und Politik machen hier Botschaften und Landesvertretungen. Es ist diese Weltpolitik per Handschlag, die Biermann hier lernt und später wieder mit nach Celle nehmen wird.
Aksana Shestakova hat per Handschlag keinen Frieden bekommen – aber immerhin eine Wohnung und einen vollen Kühlschrank, als das wirklich nötig war.
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