Stadttouren: Queere Lieblingsorte
Mit Videos und interaktiven Stadtrundgängen wendet sich eine Kampagne an queere Tourist*innen.
Darauf muss man erst mal kommen: Da preist eine Kampagne zur Förderung des LGBTIQ*-Tourismus in Berlin drei Stadttouren an – und empfiehlt allen Ernstes einen Abstecher ins „Naturidyll Tiefwerder“ in Spandau. Die Tour durch Schöneberg zur „Geschichte der Sexualität“ macht da auf den ersten Blick mehr Sinn, auch die Spurensuche nach der Bülowstraße der 1920er Jahre. Die war damals eine Vergnügungsmeile und so etwas wie das erste queere Viertel der Welt. Das könnte queere Berlin-Tourist*innen interessieren, vor allem, wenn sie an Geschichte interessiert sind. Aber Tiefwerder?
Die Kampagne namens „Place2Be.Berlin“ ist ein Projekt der Siegessäule, Berlins größtem – und queerem – Stadtmagazin. Gefördert wird die Kampagne von der Senatsverwaltung für Wirtschaft, Energie und Betriebe, seit 2020 von Jahr zu Jahr mit insgesamt rund 760.000 Euro.
„Eigentlich ist Place2Be.Berlin ein Ergebnis der Coronapandemie“, sagt Gudrun Fertig, eine der beiden Verlegerinnen der Siegessäule, im Gespräch mit der taz. Mit dem ersten Lockdown 2020 seien die Zahlen in der Tourismusbranche eingebrochen, „und wir wissen ja, dass die ein sehr wichtiger Wirtschaftsfaktor für Berlin sind“. Die Senatsverwaltung habe großes Interesse daran gehabt, „dass Berlin insbesondere bei der queeren Zielgruppe, die einen großen Teil der Berlin-Besucher*innen ausmacht, nicht in Vergessenheit gerät“.
Die Siegessäule erscheint gedruckt und online seit 2013 auf Deutsch und Englisch, und auch Place2Be.Berlin ist zweisprachig. Mit Tipps für Unternehmungen: vom Frühstück im queeren Café über Sport und Kultur bis zu Clubs und Partyreihen kennt sich das Magazin aus. Hier schreiben Menschen mit Insiderwissen. Was uns zum besagten „Naturidyll“ führt.
Tour vor Ort oder digital
Tiefwerder ist eine Ortslage in Spandau. Die Tour lässt sich mit dem Smartphone in der Hand vor Ort, aber auch vom heimischen Sofa aus miterleben. Manuela Kay, die andere Verlegerin der Siegessäule, fungiert als Moderatorin und spielt die wissbegierige Besucherin, geführt wird sie kenntnisreich von der Kabarettistin, Sängerin und lesbischen Aktivistin Sigrid Grajek. Tiefwerder, einst eine slawische Siedlung, später ein Fischerdorf, sei „von der Stadt umschlossen“, erzählt Grajek, ein „Kleinod von Berlin, das nur ganz wenige kennen“.
Die Touren funktionieren mit einer interaktiven Landkarte, eingeblendeten Fotos und Informationen. Jederzeit können auch Ortsunkundige nachvollziehen, wo sie gerade stehen – an der Holzbrücke über den Kleinen Jürgengraben zum Beispiel. Sekunden später erscheint ein Foto mit Sigrid Grajek auf der Brücke und der Information, wo diese hinführt: auf die Feuchtwiesen.
Dann die Dorfstraße hoch. Kay und Grajek kommen ins Schwärmen, als es um das Ballhaus Spandau geht, dass dort 1895 als Tanzlokal eröffnet wurde. „Hier ist lange getanzt worden“, erzählt Sigrid Grajek, „ab 1971 als Diskothek.“ Und Manuela Kay ergänzt: „In den 1980er Jahren war Punkrock angesagt – hier am Ende der Welt.“ Anekdoten gibt es zuhauf: „Hier haben sich die Bandmitglieder der Ärzte kennengelernt. Und auch Schwule und Lesben haben hier getanzt“, erzählt Grajek. Die Coronazeit habe das Ballhaus überstanden, freut sie sich.
Aber warum gibt es hier draußen eine besondere Präsenz von Schwulen und Lesben? „Das ist so gewachsen“, erzählt Grajek. Als sie mit ihrer Freundin einen Garten übernahm, „war das hier schon so eine Art Lesbenhochburg“. Die Parzelle habe sie von einem lesbischen Pärchen übernommen. „Und es wurden dann langsam immer mehr.“ Bei den Schwulen sei es ebenso gewesen. Die Gärten liegen an Kanälen. Wer mag, bekommt beim hiesigen Verleih ein Kanu oder Kajak und kann dann durch „Klein-Venedig“ paddeln. Grajek spricht von ihrem „kleinen privaten Glück“, in das sie Einblick gewährt.
Lieblingsorte queerer Berliner*innen
Die bisher produzierten Stadttouren sind alle drei sind im letzten Jahr entstanden. Verantwortlich für die Videos und Podcasts ist Nadja Brendel. „Dank der Förderung konnten wir mit einem richtig großen Filmteam arbeiten“, freut sie sich. „Ein fast rein weibliches Team, lauter queere Leute, es hat viel Spaß gemacht.“
Die Videos sind auf der Internetseite von Place2Be.Berlin zu finden. Die Kampagne ist aber auch in Social-Media-Kanälen präsent, mit Anzeigen in Printmedien oder auf riesigen Werbeflächen in ausgewählten deutschen Städten. „Unsere zentrale Idee war die mit den Videos und den Lieblingsplätzen“, sagt Brendel. „Authentische queere Berliner*innen erzählen darin von ihrem queeren Lieblingsort in der Stadt, warum sie hier gerne leben, aber auch, warum es immer eine gute Idee ist, Berlin zu besuchen.“
Laut Gudrun Fertig ist das Ziel der Kampagne, „queere Menschen im deutschsprachigen Raum und im nahen europäischen Ausland anzusprechen“. Geplant sei gewesen, in den fünf Monaten der ersten Kampagnenphase zwei Millionen Werbe-Kontakte zu generieren. „Wir haben über vier Millionen erreicht“, sagt sie.
Und zwar mit zielgruppenaffinen Inhalten: Da lädt zum Beispiel Comedian Ades Zabel zu einer queeren Kiez-Tour über den Mehringdamm in Kreuzberg ein. Schauspieler und Moderator Jochen Schropp ist in Mitte unterwegs, Sanni Est, Künstlerin, Kuratorin, Musikerin und Aktivistin, gewährt Einblicke in ihr Leben als Trans*Frau of Color.
Berliner Protagonist*innen
Für ein (unumgängliches) Kreuzberg-Video konnte mit İpek İpekçioğlu eines der bekanntesten Gesichter der Berliner LGBTIQ*-Community gewonnen werden. Als DJ İpek ist sie aus vielen Clubs nicht wegzudenken. Im Video erzählt İpekçioğlu zu Bildern vom Kotti oder dem Veranstaltungsort SO36, wie vielfältig und bunt die „vielen queeren Orte“ sind: „Das Nachtleben verspricht Freiheit“, sagt sie – aber okay, dafür hat man auch „die Qual der Auswahl“ und stets das Gefühl, „etwas zu verpassen“.
„In den Videos haben wir meist die etwas bekannteren Protagonist*innen gewählt“, sagt Nadja Brendel. „Für unsere Podcasts sind wir noch mehr in die Stadt reingegangen.“ Da geht es etwa um Menschen wie die Fetischdesignerin und Lederschneiderin Petra dos Santos. Acht Podcast-Folgen wurden produziert. Es habe viel mehr gute Ideen gegeben, die noch nicht verwirklicht werden konnten, so Brendel.
Jetzt folgen erst einmal weitere drei Stadttouren. Viele davon werden dem vom Senat ausgerufenen Trend folgen, die Touristenströme aus den ohnehin überlaufenen Szenekiezen herauszulocken – aber auch ungewöhnlichere Aktivitäten und Orte vorstellen. Gudrun Fertig hat etwa gerade den Alten St.-Matthäus-Kirchhof in Schöneberg besucht, zusammen mit Katja Koblitz, der Leiterin und Geschäftsführerin des Lesbenarchivs Spinnboden.
Der historische Friedhof – unter anderem beherbergt er die Gräber der Brüder Grimm – ist „voller queerer Geschichte“, sagt Fertig. „Prominente Leute wie Rio Reiser sind hier begraben, aber auch Minna Cauer, eine der prominentesten Vertreterinnen der ersten Frauenbewegung. Viele bekannte und unbekannte schwule Berliner, auch feministisch bewegte Lesben, die über den Tod hinaus mit einer lesbischen Grabstelle Sichtbarkeit schaffen wollten.“
Über all das, auch über das HIV-Denkmal auf dem Friedhof, hat Fertig mit Katja Koblitz gesprochen. „Sie ist eine kompetente Quelle mit viel Leidenschaft für Geschichte und Geschichten. Leider haben wir den Zeitrahmen unglaublich überzogen“, sagt die Verlegerin und lacht. Jetzt müssen die Mitarbeiter*innen ran, die das Material sichten, auswählen, schneiden und multimedial aufbereiten. „Das wird sicher zwei Wochen dauern“, sagt Nadja Brendel. Es ist gut investierte Zeit.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!