Stadtentwicklung in Berlin-Neukölln: In einem Dorf unserer Zeit
Im Böhmischen Dorf in Neukölln werkeln Start-upper an Ideen, die man nicht anfassen kann. Wie verändern sie die Dorfgemeinschaft?
D en habe ich selbst am Wohnzimmertisch gebastelt“, sagt Benjamin Nick. „Meine Frau hat sich totgelacht, weil ich handwerklich nicht besonders begabt bin.“ Nick deutet auf das größte Fenster, fast schon eine Art Schaufenster im hochmodern sanierten Innenhof um ein ehemaliges Wohnhaus und eine ehemalige Scheune herum. Mitten im Raum hinter der Glasfront hängt ein riesiges, weißes Exemplar eines Herrnhuter Sterns, der Ursprung des Weihnachtsterns sozusagen, eine Art Symbol für den Stern von Bethlehem. Vor 160 Jahren erfunden, streng und geometrisch, aber auch die Verkörperung von Besinnlichkeit. Etwas besorgt, als könne er wieder herunterfallen, versichert Nick: „Der Stern in der Brüdergemeine ist viel größer.“
Fast scheint es, als wolle Benjamin Nick mit dem Vergleich der beiden Sterne die Verhältnisse wieder ins Lot bringen. Denn Nick ist Sprecher des Coworking-Anbieters Unicorn. Im Sommer 2019 wurde das Unicorn-Village in der Richardstraße 85/86 im Böhmischen Dorf in Neukölln eröffnet. Seitdem arbeiten um den schmucken Hof hinter den glänzenden Fassaden und in geschmackvoll eingerichteten Büros meist junge Menschen aus Neukölln und von anderswo, mit befristeten Mietverträgen und an Produkten, die man oft nicht anfassen kann.
Das hat vieles verändert hier. Denn bislang wurde das Zusammenleben im Dorf noch immer von den Nachfahren der protestantischen Glaubensflüchtlinge aus Böhmen geprägt. Im 18. Jahrhundert, vor fast 300 Jahren also, kamen sie aus dem heutigen Tschechien zuerst nach Herrrnhut in der Oberlausitz und dann auch nach Rixdorf in Neukölln. Bei den böhmischen Brüdern schreiben die Gemeindemitglieder bis heute Lebensläufe auf. Damit der Pfarrer dann auf den Beerdigungen daraus lesen kann, für alle anderen. Geändert hat sich daran nur eine Kleinigkeit: Der Pfarrer hilft ihnen heute nicht mehr beim Schreiben.
Der Herrnhuter Stern, den Nick am Wohnzimmertisch gebastelt hat, ist eine Geste. Sie soll wohl sagen: Wir sind uns bewusst, dass wir hier die Neuen sind, die hier weder Lebensläufe schreiben noch beerdigt werden. Wir sind uns bewusst, dass wir aber dennoch auf geschichtsträchtigem Boden arbeiten. Benjamin Nick würde es nur anders formulieren. Für ihn ist der Stern ein Beispiel von „Storytelling“.
Anders geworden ist vieles auch für Brigitta Polinna. Sie lebt mit ihrer Familie im Rücken des Unicorn Villages von Nick in der Kirchgasse. „Hübsch finde ich es schon, was die draus gemacht haben“, sagt sie. „Dass die Seitenflügel, wo mal Ställe drin waren, für Coworking genutzt werden, dagegen habe ich gar nichts. 'Ne Scheune wird heute eben nicht mehr für Heu und Stroh benutzt“, fügt sie so trocken wie realistisch an. Aber dann macht die Frau, die ebenfalls schon an ihrem Lebenslauf geschrieben hat, eine längere Pause. „Was ich bedaure ist, dass in den Vorderhäusern nicht wenigstens eine Familie mit Kindern wohnt. Dass ein bisschen Leben da ist.“
Brigitta Polinna
Benjamin Nick und Brigitta Polinna. Der Sprecher der Coworker, der in jeden Satz mindestens einen Anglizismus schmuggelt, und die Nachfahrin der böhmischen Einwanderer, die bis heute die Traditionen von Böhmisch-Rixdorf pflegt. Geschichte und Bindung auf der einen, moderne Arbeitswelt und Sharing auf der anderen Seite. In der Kirchgasse im Böhmischen Dorf prallen beide Welten aufeinander. Und zwischen ihnen liegt lediglich eine fünf Meter breite Kopfsteinpflastergasse.
Brigitta Polinna empfängt am Gartentor. Im Wintergarten, der einmal der Hof war zwischen dem Vorderhaus an der Kirchgasse und der Scheune, hat sie den Kaffeetisch gedeckt. „Das Anwesen wurde seit Generationen in der Familie weitergegeben“, sagt Polinna, ganz Dame, mit Königin-Luise-Brosche am Pullover. „Meine Urgroßmutter hat hier noch vor dem Krieg gewohnt und Landwirtschaft betrieben. Als der Uropa starb, wohnte meine Großmutter allein hier. Da hieß es, die könne das nicht allein bewirtschaften, also ist noch Tante Lieschen mit ihrem Mann dazugekommen.“
Wenn Polinna erzählt, wird alles Geschichte. Die Porträtaufnahmen und die Fotos, die an der Wand des Wintergartens hängen, die Brüdergemeine nebenan, dort, wo in der Adventszeit der große Stern hängt. „1751 wurde unser Haus gebaut“, sagt sie stolz. „Wir sind jetzt hier in der elften Generation.“ Mehr Tradition geht nicht, das Haus von Brigitta Polinna ist lebendige Vergangenheit.
Polinna hat ihre Kindheit in der Kirchgasse verbracht, das war, als noch die Tanten dort wohnten. „Es war eine schöne Kindheit, aber alles war auch ärmlich. Die Toilette war auf dem Hof. Durch alle Fenster hat es gezogen, es gab kein fließendes Wasser. Wo der Wintergarten ist, stand eine Pumpe.“
Als die Tanten starben, zog Polinna mit ihrem Mann in die Kirchgasse, seitdem trägt sie die Tradition weiter, auch wenn sie nicht mehr Tschechisch spricht, wie es die böhmischen Einwanderer bis 1900 taten, sondern berlinert. „Den Namen Polinna habe ich von meinem Mann“, erklärt sie, „der kam aus Ostpreußen. Das Böhmische ist von meiner Familie väterlicherseits.“
Seit Polinna in die Kirchgasse gezogen ist, hat sie gesammelt, was mit den Böhmen zusammenhängt. Vieles davon ist im Museum zu sehen, das im ehemaligen Schulhaus von Böhmisch-Rixdorf untergebracht ist. Brigitta Polinna hat es zusammen mit Gleichgesinnten aus der christlichen Brüdergemeine 2005 gegründet. Gerne hätte sie Kunstgeschichte studiert. Weil sie das Abitur nicht geschafft hat, hat sie eine Ausbildung in der Damenschneiderei abgeschlossen, dann bei einer Kostümbildnerin fürs Theater gearbeitet. Seit 1981 betreibt sie eine Puppenklinik in der Richardstraße.
Neidisch auf die Böhmen
Gleich neben der Schule steht an der platzartigen Biegung der Kirchgasse das Denkmal für den Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. „Der Soldatenkönig hat die Böhmen nach Rixdorf geholt“, erzählt Polinna. Ganz konfliktfrei verlief die Ansiedlung der Glaubensflüchtlinge nicht, weiß sie: „Die Deutsch-Rixdorfer waren damals sehr neidisch, weil die Böhmen vom König etwas geschenkt bekommen haben und sie nicht. Aber beim ersten Brand 1849 haben sie den Böhmen geholfen, sie haben sie untergebracht, bis deren Häuser wieder repariert waren.“
Von Deutsch-Rixdorf stehen heute nur noch die Häuser. In Böhmisch-Rixdorf aber sind auch noch die Nachkommen der Menschen von damals da. „Von den 18 Familien aus dem Jahre 1737 leben heute noch Nachfahren von sechs Familien in den Gehöften“, sagt Polinna. „Es waren ursprünglich 18 Grundstücke, jeweils zwei wurden mit Doppelhäusern bebaut. Der König war sehr sparsam. Die Häuser wurden so gebaut, dass sie mit dem Giebel zur Straße stehen. So hat er bei jeder Familie ein ganzes Dach gespart. Die Zimmer sind alle vier Meter breit. Man ging vorne rein und ist durch die Zimmer nach hinten durch. Vorne war zur Straße hin die gute Stube.“
Als der Soldatenkönig starb, wandten sich die Kinder der Einwanderer an dessen Sohn. „Bei Friedrich dem Großen mussten die Böhmen schriftlich anfragen, ob ihre Kinder auf den Gärten noch mal ein kleines Haus bauen dürfen“, weiß Polinna. „Und dann gab es eine Order, mit der das erlaubt wurde.“
„Da geht es vor allem um Geld, Geld, Geld.“
Bevor Polinna weitererzählt, gewährt sie einen kurzen Blick in ihren idyllischen Garten, wo man sich auch mitten im Winter eher in einer Reportage der Zeitschrift Landlust wähnt als mitten im schnellen Szeneviertel Neukölln, diesem sozialen Labor, in dem irgendwie alles geht. An der Pergola wächst Blauregen, im Blumenbeet stehen Hortensien.
Vom Gartentor überblickt Polinna die Kirchgasse. Von den beiden Gebäuden, in denen Unicorn sein Coworking-Village betreibt, sieht sie nur die sanierten Scheunentore. „Ursprünglich lebte da eine bäuerliche Familie“, weiß sie über die Nachbargrundstücke. Später zog eine Autowerkstatt dort ein, die beiden Grundstücke wurden zusammengefasst und auch zusammen verkauft, sagt Polinna.
Den Preis, den Unicorn für die beiden Grundstücke zahlen musste, kennt Polinna nicht. „Aber der Effekt ist jetzt der, dass viele Anwohner denken, sie kriegen für ihr Haus eine Million oder mehr. Da ist mit einem Mal eine gewisses Wunschdenken entstanden. Da geht es vor allem um Geld, Geld, Geld.“
Die Geschichte mit dem Verkauf, ist sie sich sicher, wird sich wiederholen. „Viele Eigentümer, die jetzt drin wohnen, sind in meinem Alter. Die Kinder haben studiert, und wenn sie außerhalb Berlins eine schicke Stelle gekriegt haben, dann haben sie keine Ambitionen mehr, hierher zurückzukommen. Das wäre dann das Ende des Dorfes.“
Das Dorf von Benjamin Nick ist erst ein halbes Jahr alt. Im Unicorn-Village geht der Blick deshalb nicht zurück, sondern nach vorne. „Das produzierende Gewerbe nimmt in Berlin ab“, erklärt der Unicorn-Sprecher, „aber die Servicelandschaft wächst. Deshalb sind Büros ein wichtiger Wirtschaftsfaktor für die Stadt.“
Die Zukunft der Bürolandschaft in Berlin kann Nick besser erklären als einen Stern am Küchentisch basteln. Und er kann auch die Frage beantworten, warum Coworking-Unternehmen wie Unicorn die richtige Antwort sind auf den Wandel in der Arbeitswelt. „Im Moment macht der flexible Arbeitsraum in Deutschland 3 bis 5 Prozent aus“, sagt Nick. „Es gibt Agenturen im Westteil der Stadt, die seit 1960 zu fünft ein Büro von 600 Quadratmetern nutzen. Da sitzen dann zwei Hanseln in riesigen Meetingräumen mit lederbezogenen Konferenzsesseln. Wir dagegen schaffen es, an diesem Ort an die 280 Leute unterzubringen. Das ist effektiver.“
Unicorn, auf Deutsch Einhorn, verfügt in Berlin, Potsdam, München, Köln, Hamburg und Lissabon über 21 Standorte mit Büros, von denen derzeit 16 geöffnet sind. Nächstes Jahr wird das Unternehmen sein größtes Büro eröffnen, knapp 6.000 Quadratmeter im Neubau auf der einst heiß umkämpften Cuvry-Brache in Kreuzberg.
Dünnes Eis der Gegenwart
Nick hat sich gut vorbereitet auf das Treffen mit der taz. Wörter wie „Awareness“ und „Spaces“ purzeln ihm nur so aus dem Mund, aber auch die anderen, die sympathischen wie „Nachhaltigkeit“ und „Einbeziehung“. Er steht im Hof der beiden ehemaligen böhmischen Häuser, umgeben vom elfenbeinweißem Anstrich der Fassaden und den mattroten Biberschwanzziegeln, von topmodernen Gauben und riesigen Fensterflächen.
Stolz weist er auf den neu gepflasterten Hof – die Steine haben schon einmal irgendwo in Neukölln gelegen –, zeigt die hölzernen Hochbeete, die vom Comenius-Garten nebenan begrünt werden, dem Nachbarschaftspark auf der gegenüberliegenden Seite der Richardstraße, der vom Förderkreis Böhmisches Dorf getragen wird. Mit 2.000 Coworkern ist Nicks Firma eher eine von den kleinen. Sein Unternehmen solle „gesund wachsen“, betont Nick.
So geschichtsträchtig der Boden ist, auf dem das Village gewachsen ist, so dünn ist freilich das Eis der Gegenwart, das es trägt. Das ist Benjamin Nick durchaus bewusst. „Wenn man von Nachbarschaften umgeben ist wie hier in Neukölln, legt man viel Wert darauf, diese nicht zu überfahren“, betont er, als sei es ihm wirklich ein Anliegen, das Böhmische Dorf nicht in ein Potemkinsches Dorf zu verwandeln. Denn was echt ist und was nur Fassade, das ist in diesem Aufeinanderprallen der Welten an der Kirchgasse noch nicht entschieden.
Kaffee vom Community Barista
Also berichtet Nick vom Weihnachtsmarkt mit Glühwein umsonst im Dezember und vom Kaffee, den hier jeder kriegt, der sich durch die Tür traut. Serviert wird er vom Community Barista, der wie an allen Standorten von Unicorn für die Mieter Latte „bis zum Umfallen“ kocht. „Noch nie hat Unicorn Wohnraum verdrängt“, betont Nick, „immer nur wurden Flächen angemietet, die schon vorher gewerblich genutzt wurden.“ Die Büros im Neubau auf der Cuvry-Brache seien die große Ausnahme.
„Unser Geschäftsmodell beruht darauf, jungen Start-ups die Möglichkeit zu bieten, mit wenig Risiko Bürofläche zu mieten. Bei einem normalen Gewerbemietvertrag müssen sie fünf Jahre mieten.“ Start-ups seien aber im Schnitt nur eineinhalb Jahre durchfinanziert. Hinzu kommen die Einrichtungskosten, Internet, Streichen, Möbel. „Das bekommen sie bei uns dazu.“ Im Augenblick arbeiten im Unicorn Village Firmen mit 3 bis 35 Mitarbeitern. Für einen Tisch zahlen sie ab 320 Euro im Monat aufwärts. Alle, die im Sommer kamen, sind noch immer hier. „Ein Viertel der Mieter“, sagt Nick stolz, „sind Neuköllner Firmen.“
Jochen Biedermann ist Neu-Neuköllner. „Als ich 2001 in den Bezirk zog“, sagt er, „wurde ich noch schief angeguckt. Das führte dann zu einer Trotzreaktion. Ich hab angefangen, mich mit der Geschichte von Neukölln zu beschäftigen.“
Und zu der gehört auch die Geschichte von Böhmisch-Rixdorf. „Das Böhmische Dorf ist für Neukölln total wichtig“, weiß Biedermann, und kommt auch ohne Wörter wie Storytelling aus. „Man kann da ganz viel Neuköllner Geschichte erzählen. Zum Beispiel, wie sich eine Parallelgesellschaft, die die Böhmen waren, integriert hat.“ Ein böhmisches Dorf im Wortsinne, also eines, wo man nicht recht weiß, was es eigentlich ist, ist es dennoch geblieben. „Wenn man von der lauten, krawalligen Karl-Marx-Straße kommt“, lacht Biedermann, „denkt man: Huch, wo bin ich denn hier gelandet?“
Das Historische könnte verloren gehen
Jochen Biedermann ist nicht nur Neuköllner. Der Grüne ist auch Stadtrat für Stadtentwicklung, Soziales und Bürgerdienste. Als solcher war er mit dem Umbau der Autowerkstatt in der Richardstraße 85/86 zum Unicorn Village befasst. „Ich habe es nicht verhindern können“, sagt er offen. „Von der Denkmalsituation her war das, was da stand, eine Nachkriegsgarage, die nichts mit der historischen Situation zu tun hatte. Bei der Sanierung durch Unicorn hat der Denkmalschutz dagegen eine ganze Reihe seiner Ziele verwirklichen können.“
Dass auch Neukölln für Coworking-Anbieter interessant geworden ist, erfährt Biedermann tagtäglich. „Coworking und Mikroapartments sind die beiden ersten Ideen, die Projektentwickler an mich herantragen“, verrät er. „Bei Mikroapartments kann man noch steuern, bei Coworking ist es schwieriger. Wir werden Coworking bei Sinn Leffers haben, im ehemaligen Umspannwerk in der Richardstraße. Das ist das, was allen einfällt, bei jedem Gebäude oberhalb des ersten OG.“
Problematisch fände es Biedermann, wenn durch den Einzug der Moderne das Historische verloren ginge. Doch genau dieses Schicksal droht dem Böhmischen Dorf. „Ich fürchte, dass nun auch Böhmisch-Rixdorf in den Strudel des Immobilienmarkts gezogen wird“, sagt Biedermann. „Mit Sicherheit ist es so, dass der Verkauf an Unicorn diese Entwicklung beschleunigen wird. Damit geht dann auch ein Stück Tradition und Identität verloren.“
Biedermann sagt aber auch: „Ich fürchte, das ist der Lauf der Dinge. Ich wüsste nicht, wie man das aufhalten kann. Wenn die Kinder das nicht wollen oder wenn sie durch die Lage auf dem Immobilienmarkt von dem Geld so sehr gelockt werden, dann wüsste ich nicht, wie man jemanden zwingen könnte, das nicht zu verkaufen.“
Was aber bleibt, wenn keine Nachfahren der Böhmen mehr auf den Kolonistengrundstücken leben? Wer und was erinnert dann noch an die Geschichte von Böhmisch-Rixdorf? Das Museum im alten Schulgebäude? Das Denkmal für den Soldatenkönig? Woran will man sich eigentlich noch erinnern?
Die Trotzreaktion, die Jochen Biedermann an sich beobachtet hat, gehört auch der Vergangenheit an, hat er festgestellt. „Inzwischen ist es hip und cool, in Neukölln zu wohnen. Wenn ich in meiner Studienzeit auf Partys war und gefragt wurde: Wo wohnst du so?, wurde ich kritisch gemustert. Hast du keine Angst? Traust du dich nach Hause? Neulich habe ich ein ähnliches Gespräch gehört, da war die Antwort: Boah, das kannst du dir leisten? Damit nimmt meines Erachtens aber auch die Identifikation ein Stück weit ab.“
Auch Brigitta Polinna klagt über das Verschwinden der Identifikation. Dem neuen, unverbindlichen Neukölln steht sie skeptisch gegenüber: den Hinterlassenschaften der Menschen, die sich in der Nacht in der stillen Nachbarschaft treffen, dem vielen Geld, das alles kaputt machen könnte. Gleichzeitig erinnert sie sich aber nicht nur an die heilen Seiten der Welt, in der sie aufgewachsen ist, sondern auch an die Enge in der Brüdergemeine, das bis 1900 geltende Tanzverbot etwa. Sie sieht auch die Menschen, die jetzt ganz ohne solche Zwänge hier Wurzeln schlagen könnten. Andere Wurzeln sind das.
Orte, die sich verändern, Menschen, die an neue Orte ziehen, neues Arbeiten, das eher flüchtig ist als ortsgebunden: Dafür steht die eine Seite der schmalen Kirchgasse. Steht die andere also für eine Welt, die nur noch in der Vergangenheit zu leben scheint, die sich ihre Andersartigkeit bewahrt hat, obwohl die Jungen bereit zu sein scheinen, diese Vergangenheit für ein Leben anderswo einzutauschen? Oder gehört diese Welt gar nicht der Vergangenheit an? Taugt sie vielleicht sogar als Labor für eine neue Dörflichkeit in der Großstadt?
An einem grauen Winternachmittag steht Brigitta Polinna, inklusive Königin-Luise-Brosche, am Tresen ihrer Puppenklinik, nur wenige Häuser entfernt vom Unicorn Village. Auf dem Tresen steht ein großes Glas voll zerborstener Puppenköpfe, im Regal an der Wand stapeln sich bunte Plastikkörbe, voll mit kleinen Armen, Beinen und Köpfen aus Gummi, Stoff oder Zelluloid.
Seit 1981 kuriert Polinna hier alle Arten von Leiden. Für eine gelernte Schneiderin wie sie sei es „Furzkram“ gewesen, das zu lernen, erzählt sie mit dem Charme einer Berliner Göre und hebt an zu einer Rede über die Puppensammler, die sich anhört wie ein Abgesang. Immer weniger gebe es von ihnen und dann seien auch noch die Preise für schöne, alte Puppen von Käthe Kruse oder Schildkröt in den Keller gegangen.
Noch ist sie nicht ganz fertig mit diesem Trauergesang, da betritt ein blasser 30-Jähriger mit groben, verkleckerten Arbeitskleidern aus Cord, dunklen Rastas und britischem Akzent ihren Laden. Er wirkt, als sei er gerade aus einem Atelier gefallen, und fragt prompt nach seinen „letzten Puppen“, die er hier vor Kurzem in Reparatur gegeben hat. Polinna macht sich auf die Suche, wird fündig, legt zwei Oberkörper und Köpfe auf den Tisch. Es entspinnt sich ein ebenso langwieriger wie vorsichtig tastender Dialog, das leise Murmeln der beiden wirkt fast konspirativ.
„In meiner 40-jährigen Praxis konnte noch jeder Fall gelöst werden“, beschwichtigt sie den Kunden. „Können Sie warten?“, fragt sie ihn. „Wie lange denn?“, will er wissen. „Ein, anderthalb Jahre sind hier gar nichts“, erwidert sie bestimmt. „Was wird es denn kosten?“, fragt er unsicher. „Das weiß ich noch nicht. „Vielleicht einen Zehner“, antwortet sie, woraufhin der Mann schon zufriedener wirkt. Die beiden sind ein Dream-Team in Sachen Wertschätzung für Altes.
So wie die Leute von gestern sehnen sich auch Leute von heute eben manchmal danach, an Dingen festzuhalten. Und auch an Orten, selbst wenn sie dort weder geboren noch aufgewachsen sind. Selbst wenn das dann wie bei Benjamin Nick von Unicorn nur noch „Storytelling“ heißt.
Nette Neuköllner Mitte 20
„Ich glaube nicht, dass man den Fortschritt aufhalten kann, aber man kann ihn mitgestalten“, sagt Nick, und führt zu einem von drei Start-ups, die seit einigen Monaten umsonst im Village arbeiten dürfen, weil sie eine Ausschreibung gewonnen haben. Es handelt sich um die Firma Youflake, die Getreidequetschen verkauft: Müsli zum Selberflocken mit fancy Namen wie „Nackte Tatsachen“ und „Buch ohne Weizen“, dazu werden Toppings angeboten namens „Cherry Berry Chocolady“ oder „Solar Flower Power Protein Topping“.
Die Mitarbeiter sehen aus, wie nette Neuköllner Mitte 20 eben so aussehen. Bevor sie im Village gelandet sind, haben sie von ihrem Wohnzimmer aus gearbeitet, sagen sie. „Es würde mich ziemlich stressen, wenn ich jeden Morgen zum Alex fahren müsste“, sagt der eine ganz einfach und klingt dabei deutlich zurückgelehnter als sein Müsli. Übers Böhmische Dorf weiß er nicht viel. „Es ist trotzdem sehr schön, hier zu leben und zu arbeiten“, sagt der andere der beiden.
Vielleicht ist für ihn das Böhmische Dorf nur eine coole, aber austauschbare Kulisse. Dass der Mann sich aber im Böhmischen Dorf auch zu Hause fühlt: Vielleicht kann das auch ein Anfang für etwas anderes sein.
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